Talmudisches

Lügen

Was die antiken Weisen über Wahrheit und Ehrlichkeit lehrten

von Chajm Guski  16.08.2024 08:51 Uhr

Foto: Getty Images/iStockphoto

Was die antiken Weisen über Wahrheit und Ehrlichkeit lehrten

von Chajm Guski  16.08.2024 08:51 Uhr

Rabban Schimon ben Gamliel sagt in den Pirkej Awot, den »Sprüchen der Väter« (1,18): »Auf drei Dingen steht die Welt. Auf Recht, Wahrheit und Frieden, wie es heißt (Secharja 8, 16): ›Wahrhaft und zum Frieden sprecht Recht in euren Toren!‹« Zahlreiche Kommentatoren der Mischna heben zu dieser Stelle hervor, wie wichtig Wahrheit ist, um die Welt – und vor allem die menschliche Gesellschaft – zu erhalten.

So erklärt Menachem Meiri (1249–1315) aus der Provence, dass der unehrliche Umgang von Menschen miteinander zu Zank führen wird und dies wiederum zur Auflösung der Gesellschaft. Und Rabbiner Schimon ben Semach Duran aus Algier (1390–1440) erinnert in seinem Kommentar »Magen Awot« daran, dass uns gelehrt wurde, der Mensch solle auf den Pfaden G’ttes gehen. Und da es heiße: »Aber der Ewige ist ein wahrer (im Sinne von: die Wahrheit vermittelnder) G’tt« (Jirmejahu 10,10), sollten auch die Menschen ehrlich sein. Der Lügner und seine Lüge sind daher destruktiv.

Im Traktat Sota (42a) sprach Rabbi Jermija ben Abba: »Vier Klassen von Menschen werden von der g’ttlichen Gegenwart nicht empfangen: die der Spötter, die der Schmeichler, die der Lügner und die der Verleumder.« Ein Satz aus dem Talmud zu einem Lügner ähnelt einem bekannten deutschen Sprichwort über jemanden, der »einmal lügt«. In Sanhedrin 89b heißt es: »Das ist die Strafe des Lügners: Selbst wenn er die Wahrheit spricht, glaubt man ihm nicht.«

Zuweilen kann es dem sozialen Zusammenhalt dienen, nicht die Wahrheit zu sagen

Und doch gibt es Ausnahmen. Zuweilen kann es den sozialen Zusammenhalt verbessern oder jemandem helfen, nicht die Wahrheit zu sagen. So wird in Jewamot (65b) berichtet, dass Rabbi Ilea im Namen von Rabbi Eleasar, dem Sohn von Rabbi Schimon, sagte: »Es ist einem Menschen erlaubt, in einer Sache, die Frieden bringt, von der Wahrheit abzuweichen.« Und er zitiert einige Fälle aus dem Tanach, in denen von der Wahrheit abgewichen wird. Etwa, dass Jakow geboten habe, Josef solle die Verbrechen der Brüder verzeihen (1. Buch Mose 50, 16–17). Diesen Aussprach gab es nicht, und so wird angenommen, dies sollte den Frieden bewahren.

Genannt wird auch die Geschichte von Sara, die erstaunt ist, dass sie in ihrem hohen Alter ein Kind gebären würde: »Und mein Mann ist alt« (1. Buch Mose 18,13). Als G’tt dies Awraham erzählt, dreht Er die Aussage um: »Und ich (Sara) bin alt«, um Awraham nicht zu beleidigen. In bestimmten Situationen ist dies also vertretbar, und wir weichen trotzdem nicht von G’ttes Wegen ab.

»Beim Traktat, beim Bett und bei der Gastfreundschaft« pflegten die Rabbinen von der Wahrheit abzuweichen

Die Rabbinen legten fest, so jedenfalls Raw Jehuda im Namen Schmuels (Bawa Metzia 23b/24a), dass »die Rabbanan bei drei Dingen von der Wahrheit abzuweichen pflegten: beim Traktat, beim Bett und bei der Gastfreundschaft«. Wird also ein Gelehrter gefragt, ob er sich mit einem Talmudtraktat auskenne, solle er aus Bescheidenheit verneinen. Das Bett könnte sich darauf beziehen, dass keinerlei intime Details verraten werden dürfen. Wer die Gastfreundschaft von jemandem genossen hat, solle es nicht weitertragen, damit der Gastgeber nicht von anderen Personen zu sehr in Anspruch genommen werde.

Die Liste ließe sich heute fortsetzen. Die halachische Literatur, gerade auch die aktuelle, kennt viele Ausnahmen moderner Art. Darf man bei einer Rede zu Ehren eines Verstorbenen dessen fromme Werke ein wenig beschönigen? Darf man jemanden Sohn oder Bruder nennen, obwohl die Person es nicht ist? Darf eine Frau ihre Schwangerschaft abstreiten, um nicht über ihr Privatleben reden zu müssen? Bei vielen Entscheidern ist die Antwort positiv. Die Diskussionen sind heute näher an der Haltung der Rabbinen: den Frieden bewahren und soziale Interaktionen erträglich gestalten.

Aber eines war zur Zeit des Talmuds wohl grundlegend anders: Im Traktat Sanhedrin (22a) sagt Raw Kahana, dass man nicht bei einer Sache lüge, die später ohnehin offenbart würde. Oder mit anderen Worten: Bei nachprüfbaren Fakten lüge man üblicherweise nicht. In den Zeiten »alternativer Fakten« trifft das offenbar nicht mehr zu.

Talmudisches

Um Wunder bitten

Was unsere Weisen über die Rettung aus Gefahren lehren

von Diana Kaplan  24.01.2025

Ethik

Der Wert eines Lebens

In Israel entbrennt angesichts der dramatischen politischen Lage auch unter Rabbinern eine jahrzehntealte Debatte neu: Zu welchem Preis darf man jüdische Geiseln auslösen?

von Mascha Malburg  24.01.2025

Halacha

Begraben im Meer

Am 24. Januar 1968 verschwand ein israelisches U-Boot vom Radar. Der Fall warf auch religiöse Fragen auf

von Rabbiner Dovid Gernetz  24.01.2025

Waera

»Damit ihr Meine Macht erkennt«

Was sich hinter der Struktur des Textes verbirgt, der von den zehn Plagen berichtet

von Chajm Guski  23.01.2025

Schemot

Augenmaß des Anführers

Mosche lehrt uns, dass Barmherzigkeit nicht absolut sein darf

von Rabbiner Avichai Apel  17.01.2025

Talmudisches

Intimität

Was unsere Weisen über den Respekt gegenüber der Privatsphäre eines Ehepaars lehrten

von Rabbiner Avraham Radbil  17.01.2025

Perspektive

Toda raba!

Glücklich wird, wer dankbar ist. Das wussten schon die alten Rabbiner – und dies bestätigen auch moderne Studien

von Daniel Neumann  17.01.2025

Berlin

Chabad braucht größere Synagoge

»Wir hoffen auch auf die Unterstützung des Senats«, sagt Rabbiner Yehuda Teichtal

 15.01.2025

Ethik

Eigenständig handeln

Unsere Verstorbenen können ein Vorbild sein, an dem wir uns orientieren. Doch Entscheidungen müssen wir selbst treffen – und verantworten

von Rabbinerin Yael Deusel  10.01.2025