Recht

Loyal nach innen und außen

Widersprüche zwischen Halacha und Landesrecht können überwunden werden. Foto: Thinkstock

Der führende Rabbiner der deutschen Orthodoxie im 19. Jahrhundert, Rabbiner Ezriel Hildesheimer, war der Überzeugung, die Millionen von Juden heute teilen: Traditionelles Judentum ist mit dem modernen emanzipierten Juden vereinbar – einem jüdischen Menschen, der loyaler Bürger eines europäischen Staates mit gleichen Rechten und Pflichten ist.

Im Mittelalter waren Juden nicht dem nationalen Rechtssystem unterstellt, denn sie galten nicht als Bürger der Staaten, in denen sie lebten. Mit der Emanzipation der Juden im 19. Jahrhundert wurden sie nach und nach als Staatsbürger anerkannt und dem Recht der Staaten, in denen sie lebten, unterstellt – mit gleichen Rechten und Pflichten wie die anderen Bürger. Mitgliedschaft in einer jüdischen Gemeinde wurde somit ein freiwilliges Bestreben des Einzelnen, genauso wie die Entscheidung, sich den jüdischen religiösen Gesetzen zu unterwerfen.

Dualität Diese Dualität, als Jude gemäß den Gesetzen der Tora zu leben sowie als Staatsbürger gemäß den Gesetzen des Staates zu leben, brachte auch einige Probleme mit sich. Viele sind mit dem Prinzip »dina d’malchuta dina« vertraut, das heißt, das Gesetz des Staates ist das geltende Gesetz, an das jeder sich zu halten hat. Nichtsdestoweniger ist dieses Prinzip insofern eingeschränkt, als dass es sich ausschließlich auf finanzielle Dinge beschränkt, auf Handel, Steuern und Fragen des Eigentumsrechts. Das Prinzip »dina d’malchuta dina« verdrängt keine religiöse Pflicht eines jüdischen Menschen und kann auf keinen Fall einen Juden dazu verpflichten, etwas zu tun, was jüdischem Recht widerspricht.

Sollte ein Parlament – sei es in Deutschland oder in einem anderen europäischen Staat – eine umfassende Regelung verabschieden, die wichtige Bestandteile eines jüdischen Rituals gesetzlich verbietet, wie zum Beispiel die kürzlich diskutierte Beschneidung, die Brit Mila, hätte diese Regelung nicht den Status von »dina d’malchuta dina«, denn, so der Experte für jüdisches Recht Nachum Rakover: »Es steht nicht in der Macht des Königs (beziehungsweise des Staates), einem Menschen zu befehlen, die Gebote seiner Religion zu übertreten, denn es gibt kein staatliches Interesse daran, einen Menschen seine Religion verletzen zu lassen oder ihn zu zwingen, etwas gegen seine Religion zu tun.«

Jüdische Tradition verlangt die Loyalität des jüdischen Bürgers seinem Staat sowie dessen Regierung gegenüber. Auf der anderen Seite, wenn die Regierung eines Staates eine »Memschelet Haschemad« ist, eine Regierung, die die Zerstörung der jüdischen Gemeinde und deren Sitten befürwortet und propagiert, ist die Gemeinde als Ganzes sowie jeder einzelne Jude dazu angehalten, so schnell wie möglich das Land zu verlassen und bessere Bedingungen zu suchen. Da stellt sich die Frage: Wie flexibel ist die Halacha, um sich an das Gesetz und die Kultur des Landes anzupassen? Gibt es Regeln, die diesen Bereich betreffen, oder ist es so, wie die berühmte orthodoxe Feministin Blue Greenberg einmal sagte: »Wo ein rabbinischer Wille ist, gibt es auch einen halachischen Weg«?

Halachagelehrter Oftmals tritt allerdings der Fall ein, dass die Halacha mit dem nationalen Recht kollidiert – allerdings nicht, weil der Gesetzgeber dies beabsichtigt, sondern weil eine Person sich aufgrund bestimmter Umstände in einem Konflikt zwischen Halacha und dem nationalen Recht befindet. Ein interessantes Beispiel ist der Fall, der von Rabbi Jair Bacharach (1639–1702), einem bedeutenden Halachagelehrten aus dem Rheinland, diskutiert wurde.

Dabei ging es darum, dass eine jüdische Gruppe von einer deutschen Stadt in eine andere deutsche Stadt reiste. Das damalige Gesetz besagte, dass eine Frau nur mit ihrem Ehemann reisen durfte. Die Grenzpolizei musste davon überzeugt werden, dass die mitreisende Frau auch die Ehefrau des Mannes war, mit dem sie reiste. Um dies festzustellen, verlangte die Polizei, dass der Mann die Frau küssen sollte. Die Frage, die in dem Zusammenhang an Rabbi Bacharach herangetragen wurde, bestand aus zwei Teilen. Zum einen, darf der Ehemann seine Ehefrau küssen, während sie ihre Menstruation hat, obwohl dies gegen die jüdische Tradition verstößt? Zum anderen war die Frage: Wenn die Frau nun die Ehefrau eines anderen war, durfte der Mann diese dann küssen, damit sie die Grenze überqueren durften?

Interessanterweise erlaubte Rabbi Bacharach den ersten Fall, aber er verbot den zweiten. Somit stimmte er zu, das Gesetz für den Fall zu lockern, dass die Wahrheit bewiesen werden soll, aber er verbot die Lockerung der Gesetze, um eine Lüge zu beweisen. Es gibt zahlreiche Situationen, in denen gläubige Juden in einen Konflikt zwischen ihrem Glauben und den Vorschriften und Gesetzen des Staates geraten. Zum Beispiel Studenten, die sich dafür entscheiden, an einer Universität zu studieren, an der auch am Schabbat unterrichtet wird.

Die Halacha macht in solchen Fällen einen großen Unterschied zwischen üblicherweise anerkannten Normen der Einhaltung und notwendigen Mindeststandards der Beachtung des jüdischen Rechts. Obwohl jüdische Schulen am Schabbat generell geschlossen sind und der Schabbat spirituellen und religiösen Dingen gewidmet ist, verbietet die Halacha nicht das Studium der Wissenschaften an diesem Ruhetag.

Frühgottesdienst Die Gemeinden haben insofern schon immer besondere Maßnahmen oder Arrangements getroffen, um Schülern die Teilnahme am Unterricht an säkularen Schulen zu ermöglichen, ohne dass dabei deren religiöses Leben nachstehen muss, etwa durch Einführung von Frühgottesdiensten. Die zwei Rechtssysteme, die Halacha und das säkulare, nationale Recht des Landes, müssen also nicht immer kollidieren. In vielen Fällen können wir vielmehr beobachten, wie das säkulare Recht die Halacha in tiefsinniger Weise beeinflusst.

Aufsicht Ein weiteres Beispiel, das ich nennen möchte, ist eine Grundsatzentscheidung von Rabbi Moshe Feinstein, dem wichtigsten halachischen Gelehrten der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in den Vereinigten Staaten. In der Entscheidung ging es um Milch, deren Produktionsprozess nach den Regeln der Halacha durch einen Juden beaufsichtigt werden muss, um als koscher zu gelten. Die von der Halacha geforderte Aufsicht soll verhindern, dass Kuhmilch mit der Milch anderer, nichtkoscherer Tiere oder durch andere, nichtkoschere Stoffe verunreinigt wird.

Vor dem Hintergrund, dass amerikanisches Recht die Vermischung von Kuhmilch mit Milch anderer Tierarten ebenfalls verbot, außer wenn dies ausdrücklich auf der Packung stand, eine ausführliche Lebensmittelaufsicht den Herstellungsprozess überwachte und Verstöße dagegen scharf geahndet wurden, entschied Rabbi Feinstein für diesen Fall, dass die staatliche Aufsicht mit der rabbinischen Aufsicht vergleichbar sei.

Diese Entscheidung – sie basiert auf der Ansicht, dass die Halacha sich auf das säkulare Recht und die Aufsicht der Behörden verlassen konnte – machte handelsübliche Milch und unzählige andere Milchprodukte überall auf der Welt für gläubige Juden zugänglich. Dieser Fall zeigt, von welch großer Bedeutung das Zusammenspiel des jüdischen Religionsgesetzes mit der säkularen, nationalen Rechtsordnung für das moderne orthodoxe Judentum und das Wohlergehen der jüdischen Gemeinden und ihren Heimatländern ist.

Rabbi Feinstein, der 1936 aus dem kommunistischen Russland in die Vereinigten Staaten geflüchtet war, hob in seinen Responsa die neue Rolle hervor, in der sich die Juden in den USA befanden. In den Vereinigten Staaten seien sie nicht mehr diskriminierenden Gesetzen oder antisemitischen Richtern ausgesetzt. Feinstein forderte deshalb, dass Juden dem Wortlaut des Gesetzes ihres Aufenthaltslandes strikt zu folgen haben – eine Idee, die bei vielen Überlebenden der Schoa natürlich nicht auf großes Verständnis stieß. Auf der anderen Seite des Spektrums sehen wir dagegen den großen Einfluss des jüdischen Rechts auf die Rechtssysteme und die Erinnerungskultur in Europa, wenn teilweise Gesetze, die das Bewahren und Erhalten von Massengräbern, in denen Nazis ihre Opfer verscharrten, aus den Quellen der Halacha schöpfen und auf diese zurückzuführen sind.

Credo Ich habe diesen Vortrag mit dem Hildesheimerschen Credo der Integration des Judentums in die moderne europäische Kultur begonnen, der Schaffung moderner jüdischer Gemeinden, die sich sowohl in das moderne Europa einfügen als auch ihrem Judentum treu bleiben können. Nach der nationalsozialistischen Unrechtsherrschaft und der Schoa gibt es nicht wenige Stimmen, die eine solche Symbiose zwischen Mehrheit und Minderheit für unmöglich halten und argumentieren, der Völkermord habe jegliche Hoffnung der Juden auf künftiges Zusammenleben zerstört. Natürlich könnten Juden weiterhin in Europa in selbst geformten »spirituellen Ghettos« physisch weiterleben – und sich von der europäischen Mehrheitskultur abgrenzen.

Aber die Frage ist, ob wir die gesamte Gesellschaft wieder dazu ermuntern und erziehen können, an die Koexistenz zweier Kulturen zu glauben. Ich wurde mit dem Gedanken der Tora im Derech Eretz erzogen, der Pflicht jüdischer Gemeinden, im Zusammenspiel mit der Kultur und den Gesetzen des Landes zu leben, und so auf der einen Seite die jüdische Tradition mit der örtlichen Kultur zu bereichern – und auf der anderen Seite unsere Jüdischkeit beziehungsweise Tradition in das gemeinsame europäische Erbe einzubringen. Für jede Zweierbeziehung sind zwei bereitwillige Partner notwendig. Meine große Hoffnung ist, dass Europa sich nicht erneut als der unwillige Partner in diesem einmaligen Experiment der Menschheitsgeschichte herausstellt.

Der Autor ist Oberrabbiner von Moskau und Präsident der Europäischen Rabbinerkonferenz. Der Text ist ein Auszug aus seinem Hildesheimer-Vortrag vom 11. Dezember, veranstaltet vom Rabbinerseminar zu Berlin und den Berliner Studien zum Jüdischen Recht an der Humboldt-Universität.

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