EILMELDUNG! Internationaler Strafgerichtshof erlässt Haftbefehl gegen Israels Premier Netanjahu

Tasria-Mezora

Lohn der Wehen

Schwere Geburten ziehen überdauerndes großes Glück nach sich

von Rabbiner Jaron Engelmayer  16.04.2021 08:55 Uhr

Kindergesicht: Alle Leiden der Geburt werden durch das überwältigende Gute überstrahlt. Foto: Getty Images

Schwere Geburten ziehen überdauerndes großes Glück nach sich

von Rabbiner Jaron Engelmayer  16.04.2021 08:55 Uhr

Unrein. Ein unangenehmer Zustand. Bisweilen bringt er verordnete Einsamkeit mit sich, sei es wochenweise in Quarantäne bis zur Klärung des Zustands (3. Buch Mose 13, 4–5, 21, 26, 31 und 33), sei es in sozialer Distanzierung bis zum Ende des Heilungsprozesses (46).

Bei mancher Unreinheit wird ein Abstand von circa zwei Metern erforderlich (Talmud Sota 44a), Körperflüssigkeiten wie etwa Speichel können die Unreinheit bisweilen übertragen (Mischna Kelim 1, 3).

Diesen Regeln haben wir uns größtenteils mit der Zerstörung des Tempels und dem damit einhergehenden Verlust seiner Heiligkeit und vieler Reinheitsgesetze entfremdet, doch wurden sie uns als Gesamtgesellschaft im vergangenen Jahr auf ganz anderem Wege wieder deutlich greifbarer und verständlicher.

TOD In einem regulären, geordnet verlaufenden Leben wünschen wir uns keine Unreinheit. Sie weist auf Krankheit, Strafe und Tod hin, von welchen man sich möglichst fernhalten möchte.

So schreibt Rabbi Jehuda Halevi im Kusari: »Es ist möglich, dass der Aussatz und die Krankheit unreiner Sekrete sich von der Unreinheit des Toten ableiten. Denn der Tod ist der allgemeine Verlust des Körpers, und das aussätzige Glied ist wie tot; auch der Samen, der verloren geht, denn in ihm steckt natürlicher Lebensgeist, bereit, ein Blutstropfen zu werden, aus dem der Mensch entsteht. Der Verlust dieses Samens steht also im Gegensatz zur Kraft des Lebens und des Lebensgeistes« (2,60).

Alle Arten von Unreinheit, mit denen sich unser Doppelwochenabschnitt Tasria-Mezora befasst – Aussatz, unreine Sekrete, Samenerguss, Menstruation –, sind auf die eine oder andere Art mit dem Verlust von Leben verbunden: sei es der Tote selbst, der Unreinheit verbreitet, oder ein aussätziges Glied, das wie vom Leben abgeschnitten ist, oder die Ausscheidung potenziellen Lebens und lebenserhaltender Flüssigkeiten. Es ist ein Stück Tod, welches das Leben empfindlich stört, sodass der Unreine auf Reinigung und Sühne angewiesen ist (3. Buch Mose 14, 1–32) und sich so lange dem Sitz der g’ttlichen Gegenwart im Heiligtum, der Quelle des Lebens (Psalm 36,10), nicht nähern darf.

Doch zu unserer großen Überraschung beginnt die Aufzählung aller Unreinheiten des Doppelwochenabschnitts mit folgenden Worten: »Eine Frau (…), die einen Sohn gebärt, ist sieben Tage unrein (…). Und 33 Tage (…) darf sie alles Heilige nicht berühren und nicht ins Heiligtum kommen, bis die Tage der Reinheit vollzählig sind (…). Und wenn die Tage der Reinheit vollzählig sind (…), und sie es bringe (das Opfer) vor dem Ewigen dar, und es sühne sie, und sie wird rein« (3. Buch Mose 12, 2–8).

MUTTERLEIB Auch die Geburt eines Menschen, das Geschenk des Lebens, bringt also Unreinheit und macht die Gebärende unrein. Doch wie passt das in unser Bild?

Eine mögliche Erklärung ist, dass der Austritt des Kindes aus dem Mutterleib für die Mutter die Trennung von einem Stück Leben ihres Körpers bedeutet, da dieses nun selbstständig geworden ist. Dies würde auch begründen, warum nur die Mutter, nicht aber das Kind durch die Geburt unrein wird.

Jedenfalls setzt die Tora mit dieser Eröffnung ein klares Zeichen, was das Thema Unreinheit betrifft: Sie tritt nicht nur infolge krankhafter und sträflicher Umstände auf, sondern im Falle einer Geburt ganz im Gegenteil als Folge äußerst beglückender und erwünschter Ursachen. Damit ändert sich die Vorstellung von Unreinheit grundlegend: Sie ist Teil des Lebens und gehört dazu. Dies wirkt sich auf das gesamte Bild von Unreinheit aus: Auch die anderen Ursachen bis hin zum Tod sind untrennbare Teile des Lebens und gehören dazu, ebenso wie die Geburt, ob wir es wollen oder nicht.

So konstatiert auch die Mischna: »Die Geborenen (sind bestimmt) zu sterben, und die Toten wieder zu leben (…), denn gegen deinen Willen wirst du geboren, gegen deinen Willen lebst du, gegen deinen Willen stirbst du« (Sprüche der Väter 4,24).

Des Weiteren ist erstaunlich, dass eine gebärende Frau ein Sühneopfer zu bringen hat, wie oben erwähnt. Wo Sühne benötigt wird, da war zuvor auch eine Sünde. Doch welche Sünde begeht eine Frau, die gebärt? Der Talmud (Nidda 31b) gibt folgende Antwort: Eine Frau, die gebärt, schwört sich (vor lauter Schmerzen), dies nicht noch einmal durchzumachen. Dieser Schwur, den sie später bereut, wird als Fehlverhalten eingestuft, das zu sühnen ist.

URMUTTER Rabbeinu Bachje hat in seinem Kommentar (3. Buch Mose 12,7) eine andere Erklärung bereit: Die Sünde steht nicht in direkter Verbindung mit der Gebärenden, sondern ist auf die Ursünde der Urmutter Chawa zurückzuführen, die noch nicht vollständig gesühnt ist. Was meint Rabbeinu Bachje damit? Und wieso nimmt er die Erklärung des Talmuds nicht an?

Möglicherweise ergänzt er den Talmud und vervollständigt dessen tieferes Verständnis: Vor der ersten Sünde im Garten Eden waren gut und schlecht vollkommen voneinander getrennt. Als Adam und Chawa aber von der Frucht des Baumes der Erkenntnis aßen, da vermischten sich gut und schlecht.

Von diesem Moment an gibt es das Gute und das Schlechte nicht mehr in ihrer reinen Form, sondern in allem Guten befindet sich auch Schlechtes und in allem Schlechten etwas vom Guten. Die beiden sind in der Realität nicht mehr komplett voneinander zu trennen, was die Unterscheidung von gut und schlecht enorm erschwert. Wenn man etwas Gutes erreichen will, ist dies automatisch mit negativen Dingen, mit gewissen Leiden oder Anstrengungen verbunden, wodurch das Gute an sich schwerer erkennbar ist.

In der Geschichte von Choni, dem Kreiszieher (Talmud Ta’anit 23a), kommt dies deutlich zum Ausdruck. Als er mit seiner besonderen Gebetskraft und -art um Regen bat, musste er zweimal nachhaken, damit es weder wie zunächst tropfenweise, noch wie darauf in vernichtenden Sturmfluten regne, sondern gesegneter Regen auf die Erde niedergehe. Dies entspricht aber nicht der normalen Realität. In ihr gehen die Dinge meistens nicht in idealer Form vonstatten, daher muss der Mensch auch mit vielen Kompromissen leben.

GESCHENK Gerade bei der Geburt eines Menschen hätten wir angenommen, dass es sich dabei um das Gute in seiner reinsten Form handelt: eine wunderbare Erfahrung, ein durch und durch positives Erlebnis, ein wahres Geschenk!

Aber in der Tat ist auch die Geburt ein komplexer und leidvoller Vorgang, sodass die Gebärende sogar bereit ist, auf das ganze Gute, Schöne und Wunderbare einer Geburt zu verzichten. Sie schwört sich, es nicht noch einmal durchzumachen. So tief steckt das Negative auch in diesem Guten. Später jedoch würde sie auf das wunderbare Produkt der Geburt – auf ihr Kind – um nichts in der Welt verzichten, womit die negativen Gedanken, bewusst oder unbewusst, überholt sind und mit einem Sühnevorgang ihre Gültigkeit verlieren sollen.

Eine ähnliche Diskussion treffen wir im Zusammenhang mit Maschiach und den Tagen der Erlösung an: Zu den Glaubensgrundsätzen und Hoffnungsträgern der jüdischen Nation zählt die tägliche Erwartung des Maschiach, wie die durch zahlreiche Melodien bekannten Worte des zwölften Glaubensgrundsatzes von Maimonides (»ani maamin«) belegen.

Und doch gibt es Talmudgelehrte, die es bevorzugten, die Tage des Maschiach nicht zu erleben, wegen der damit einhergehenden Leiden (Rabba, Ulla und Rabbi Jochanan – Talmud Sanhedrin 98b).

Die Tage der Erlösung werden dort interessanterweise mit einer Geburt verglichen und wohl auch deswegen als »Chewlej Maschiach« – »Geburtswehen des Messias« – bezeichnet. Doch Rav Josef kontert zugleich und legt fest, dass es das alles wert ist. Alle Leiden werden durch das überwältigende Gute überstrahlt. Möge das Erbe der Ursünde nicht weiter auf uns lasten: Schwere Geburten ziehen überdauerndes großes Glück nach sich. Dieses lohnt sich zu erwarten und stets darauf zu hoffen.

Der Autor ist Oberrabbiner der Israelitischen Kultusgemeinde Wien.


inhalt
Der Wochenabschnitt Tasria lehrt die Gesetze für die Wöchnerin und die Dauer der Unreinheit. Bei einem männlichen Kind wird zudem festgelegt, dass es am achten Tag nach der Geburt beschnitten werden soll.
3. Buch Mose 12,1 – 13,59

Im Wochenabschnitt Mezora wird unter anderem die Reinigung von Menschen beschrieben, die von Aussatz befallen sind.
3. Buch Mose 14,1 – 15,33

Studium

»Was wir von den Rabbinern erwarten, ist enorm«

Seit 15 Jahren werden in Deutschland wieder orthodoxe Rabbiner ausgebildet. Ein Gespräch mit dem Gründungsdirektor des Rabbinerseminars zu Berlin, Josh Spinner, und Zentralratspräsident Josef Schuster

von Mascha Malburg  21.11.2024

Europäische Rabbinerkonferenz

Rabbiner beunruhigt über Papst-Worte zu Völkermord-Untersuchung

Sie sprechen von »heimlicher Propaganda«, um Verantwortung auf die Opfer zu verlagern: Die Europäische Rabbinerkonferenz kritisiert Völkermord-Vorwürfe gegen Israel scharf. Und blickt auch auf jüngste Papst-Äußerungen

von Leticia Witte  19.11.2024

Engagement

Im Kleinen die Welt verbessern

Mitzvah Day: Wie der Tag der guten Taten positiven Einfluss auf die Welt nehmen will

von Paula Konersmann  17.11.2024

Wajera

Offene Türen

Am Beispiel Awrahams lehrt uns die Tora, gastfreundlich zu sein

von David Gavriel Ilishaev  15.11.2024

Talmudisches

Hiob und die Kundschafter

Was unsere Weisen über die Ankunft der Spione schreiben

von Vyacheslav Dobrovych  15.11.2024

Gebote

Himmlische Belohnung

Ein Leben nach Gʼttes Regeln wird honoriert – so steht es in der Tora. Aber wie soll das funktionieren?

von Daniel Neumann  14.11.2024

New York

Sotheby’s will 1500 Jahre alte Steintafel mit den Zehn Geboten versteigern

Mit welcher Summe rechnet das Auktionshaus?

 14.11.2024

Lech Lecha

»Und du sollst ein Segen sein«

Die Tora verpflichtet jeden Einzelnen von uns, in der Gesellschaft zu Wachstum und Wohlstand beizutragen

von Yonatan Amrani  08.11.2024

Talmudisches

Planeten

Die Sterne und die Himmelskörper haben Funktionen – das wussten schon unsere Weisen

von Chajm Guski  08.11.2024