In den vergangenen zwei Jahrhunderten hat so manch säkularer, atheistischer und bibelkritischer Zeitgenosse die monotheistischen Weltreligionen ins Fadenkreuz genommen. Und zwar nicht nur, weil dem modernen Geist die Idee eines überweltlichen Schöpfers, eines allmächtigen G’ttes oftmals absurd vorkommt. Sondern auch, weil man sich nicht mit der Idee anfreunden kann, dass ein himmlischer Steuermann darüber bestimmen soll, wie jeder Einzelne sein Leben gestaltet.
Das Bild eines radikalen Über- und Unterordnungsverhältnisses zwischen dem Allmächtigen und dem Menschen, das in widerspruchslosem Gehorsam zum Ausdruck kommt, ist weit verbreitet. Dieser landläufigen Vorstellung nach ist die Rangordnung klar geregelt. Es gibt den König und die Untergebenen, den Herrscher und die Beherrschten.
Autorität Im Judentum ist die Sachlage allerdings ein bisschen komplizierter: Ein schlicht hierarchisches Verhältnis zwischen dem Ewigen als absolute Autorität und uns als seinen Untergebenen wird weder der biblischen Geschichte noch der jüdischen Wirklichkeit gerecht.
Zugegeben: Es existiert das Bild, in dem wir als Diener des Herrn, als Vasallen im Hofstaat des himmlischen Königs agieren. Doch das sind nur einige Steinchen in dem farbenfrohen Mosaik, welches die jüdische Wirklichkeit abbildet.
In Wahrheit ist unser Verständnis der Beziehung von Mensch und G’tt nämlich weit weniger von einem Über- und Unterordnungsverhältnis bestimmt als von einer Partnerschaft. So betrachteten die Rabbinen das jüdische Volk als Partner G’ttes bei der Schaffung und der Vervollkommnung der Welt.
Der Jude ist im Verhältnis zu G’tt nicht nur Diener, Untergebener oder Befehlsempfänger, sondern verfügt – zumindest im Idealfall – auch über ausgeprägte intellektuelle Fähigkeiten, emotionale Reife und ein gesundes Selbstbewusstsein: Eigenschaften, die ihn gegenüber seinem Schöpfer zu einem selbstbestimmten, kritisch denkenden Wesen machen, das gerade auch in religiösen Fragen befähigt ist, durchdachte und reiflich abgewogene Entscheidungen auf der Grundlage des himmlischen Gesetzeskodexes zu treffen.
Ofen Eine Schilderung im Talmud lässt erahnen, welch außergewöhnliches Verhältnis zwischen den Juden und G’tt vorherrscht. Die Geschichte ist unter dem Namen »Der Ofen von Akhnai« bekannt und hat folgenden Hintergrund (Baba Metzia 59b): Einst bereiteten Juden ihr Essen vorwiegend unter freiem Himmel zu. Dafür benötigten sie koschere Kochutensilien. Getöpferte Behälter oder Öfen konnte man im Gegensatz zum heutigen Glasgeschirr allerdings nicht mehr koscher machen, wenn sie (aus welchem Grund auch immer) erst einmal unrein geworden waren. Stattdessen mussten sie komplett zerschlagen werden.
Doch eines Tages kam ein findiger Kopf auf die Idee, einen Ofen zu entwickeln, der bereits vor der Benutzung zerschlagen worden war: eine recycelbare Backstation sozusagen. Diese kam in einzelnen Stücken, wurde mit Lehm an den Bruchstellen aufgefüllt, gebrannt und so funktionsfähig gemacht.
Wenn dieser Ofen nun unrein wurde, nahm man ihn mit wenig Aufwand auseinander, setzte ihn anschließend mithilfe von Lehm wieder zusammen, brannte ihn erneut – und schon hatte man einen neuen, rituell reinen Ofen hergestellt.
Rabbi Elieser ben Hyrkanos fand diese Idee wunderbar, während die anderen Weisen dem Vorschlag eine Absage erteilten, weil man es sich damit viel zu einfach mache. Im Laufe einer heftigen Debatte im örtlichen Lehrhaus deutete Rabbi Elieser auf einen Baum und rief: »Wenn ich recht habe, dann wird es dieser Baum bezeugen.« In diesem Moment hob sich der Baum, der im Vorgarten des Lehrhauses stand, wie von Geisterhand aus der Erde heraus und schoss 100 Fuß gen Himmel – manche sagen sogar: 400 Fuß.
Woraufhin die Weisen antworteten: »Wir diskutieren hier über Kochgegenstände, Behältnisse und Unreinheit. Was hat denn der Baum mit unserer Diskussion zu tun?« Daraufhin meinte Elieser: »Sollte ich recht haben, dann wird der Fluss dies beweisen«, und mit einem Mal änderte der Fluss die Laufrichtung des herabströmenden Wassers. Plötzlich floss es bergauf und nicht mehr bergab, woraufhin die Weisen sagten: »Du kannst mithilfe eines Flusses keinen Beweis für die Richtigkeit deiner Meinung erbringen.«
Wände Elieser rief daraufhin: »Wenn ich recht habe, dann sollen die Wände dieses Lehrhauses es beweisen«, und in dem Moment begannen sich die Wände kräftig nach innen zu neigen. Da stand Rabbi Jehoschua auf und rief: »Ihr Wände! Was geht es euch an, wenn wir Rabbiner uns streiten?«, und aus Respekt vor ihm stürzten sie nicht vollständig ein. Doch aus Respekt vor Rabbi Elieser bewegten sie sich auch nicht zu ihrem Ausgangspunkt zurück, sondern blieben bis zum heutigen Tag schief stehen.
Schließlich erklärte Rabbi Elieser: »Wenn ich recht habe, dann wird es eine himmlische Stimme beweisen!« Da erschallte die Stimme G’ttes und rief: »Was habt ihr gegen Rabbi Elieser? Ihr wisst doch bestimmt, dass er in jedem einzelnen Fall recht hat und das Gesetz sich stets nach seiner Ansicht richtet.«
Woraufhin Rabbi Jehoschua aufstand, zum Himmel blickte und erwiderte: »Die Tora ist nicht im Himmel (5. Buch Mose, 30,12). Du hast uns die Tora schon gegeben, Ewiger, und in ebendieser Tora steht geschrieben, dass sie nicht mehr im Himmel ist, sondern auf Erden. Hier wird durch die demokratische Mehrheit entschieden (2. Buch Mose 23,2). Und die Mehrheit hat sich gegen Rabbi Eliesers Meinung gewandt!«
G’tt und Rabbi Elieser wurden damit von einem halben Dutzend anderer Rabbiner glatt überstimmt. Die demokratische Mehrheit hat gewonnen. Doch damit ist die Erzählung noch nicht zu Ende! Der Talmud berichtet im Anschluss an diese Ereignisse von einer Begegnung zwischen einem der beteiligten Rabbis und dem Propheten Elijahu.
Der Rabbi fragte Elijahu, wie G’tt denn reagiert habe, nachdem er von seinen Kindern überstimmt worden war, woraufhin Elijahu antwortete: »Er hat fröhlich gelacht und gesagt: Meine Kinder haben mich besiegt, meine Kinder haben mich besiegt!«
Anerkennung Es ist dieser unglaubliche Moment, in dem G’tt sich vor seiner eigenen Schöpfung verneigt, dem Menschen in seiner intellektuellen Kühnheit Tribut zollt und einem stolzen Vater gleich anerkennt, dass seine Kinder zu eigenständigen, mutigen und kritischen Geistern gereift sind.
Es ist dieser Moment, der uns kraftvoll vor Augen führt, dass es G’tt aus jüdischer Perspektive nicht darum geht, unterwürfige, abhängige und geistig verarmte Wesen zu erschaffen, die ihm wie Schafe folgen, sondern selbstbewusste und emanzipierte Partner, die ihm bei der Vervollkommnung der Welt zur Seite stehen.
Es ist dieser Moment, in dem der Ewige dem Individuum Raum gibt, sich fortzuentwickeln, zu wachsen, zu reifen, um sich für die kommenden Aufgaben zu wappnen. Das heißt nicht, dass wir Juden uns vom Herrscher des Universums distanzieren sollten. Und es ist auch kein Freibrief, seine Gesetze mit überheblicher Herablassung missachten zu dürfen.
Keinesfalls! Vielmehr sollen wir uns selbstbewusst und kreativ, aber nichtsdestotrotz innerhalb des g’ttlich vorgegebenen Referenzrahmens, des biblischen Gesetzes, bewegen. Gehorsam und Widerspruch sind im Judentum keine entgegengesetzten Pole, sondern zwei Seiten ein und derselben Medaille.
Treue und Kühnheit, Loyalität und Emanzipation, Dienst und kritische Reflexion bilden somit das Fundament des außergewöhnlichen Verhältnisses zwischen dem Volk Israel und G’tt.
Möge der Ewige stets darüber lachen und mit Zufriedenheit und Stolz auf seine manchmal ziemlich halsstarrigen und widerspenstigen, dafür aber stolzen und selbstbewussten Kinder blicken. Er hat es ja schließlich nicht anders gewollt.
Der Autor ist Direktor des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden in Hessen.