Die folgende Barajta (eine Tradition, die nicht in die Mischna aufgenommen wurde) interpretiert einen Vers der Tora, der nicht leicht zu verstehen ist und daher unterschiedlich ins Deutsche übersetzt worden ist: »›Damit seine Furcht euch überm Angesicht sei‹ (2. Buch Mose 20,20) – das ist die Schamhaftigkeit, ›auf dass ihr nicht sündigt‹ –, dies lehrt, dass Schamhaftigkeit Sündenscheu bringt« (Nedarim 20a). Nach dieser Auslegung besteht eine kausale Verbindung zwischen Schamhaftigkeit und der Vermeidung von Sünden.
In der angeführten Talmudstelle heißt es weiter: »Hierauf bezugnehmend sagten sie, es sei beim Menschen ein gutes Zeichen, wenn er schamhaft ist. Andere sagten: Ein Mensch, der schamhaft ist, sündigt nicht leicht, und wer keine Schamhaftigkeit besitzt, dessen Eltern standen sicherlich nicht am Berg Sinai.«
lebensführung Die Bedeutung der Schamhaftigkeit für eine fromme, möglichst sündenfreie Lebensführung sollte nicht unterschätzt werden. Sogar die folgenreiche Zerstörung Jerusalems ist mit dem Fehlen von Schamhaftigkeit in Verbindung gebracht worden. Im Talmudtraktat Schabbat (119b) erörtern die Weisen, welche Sünde die Zerstörung Jerusalems wohl herbeigeführt habe.
Der Gelehrte Ulla meinte: »Jerusalem wurde nur deshalb zerstört, weil es da an gegenseitiger Schamhaftigkeit fehlte, denn es heißt: ›Schämen sollten sie sich, dass sie Gräuel verübt haben; indes es gibt für sie keine Scham‹« (Jirmejahu 6,15).
Hätten die Leute sich voreinander geschämt, dann hätten sie nicht die Gräuel verübt, von denen der Prophet spricht. Schamgefühle sind demnach Bestandteil der in zivilen Gesellschaften vorhandenen sozialen Kontrolle.
Beachtenswert ist ein Vergleich, den ein berühmter Gelehrter gezogen hat: »Als Rabban Jochanan Ben Zakkai erkrankte, besuchten ihn seine Schüler (…). Sie sprachen zu ihm: ›Meister, segne uns!‹ Er sagte ihnen: ›Möge es sein Wille sein, dass die Furcht vor dem Himmel in euch so sei wie die Furcht vor einem Menschen aus Fleisch und Blut!‹ Die Schüler erwiderten: ›Nur so weit?‹« (Berachot 28b). Raschi (1040–1105) erklärt dieses Staunen der Jünger: »Sollten wir vor Gott nicht mehr Ehrfurcht haben als vor Menschen?«
Rabban Jochanan Ben Zakkai antwortete: »Oh, wenn dem doch so wäre! Wisset, wenn ein Mensch sündigt, so spricht er zu sich: ›Hoffentlich sieht mich niemand!‹« Mit anderen Worten: Theoretisch steht die Gottesfurcht weit höher als die Furcht vor Menschen – aber in der Praxis schämen sich Sünder eher vor ihren Mitmenschen als vor dem Ewigen.
GOTTESFURCHT Rabbiner Mosche Chajim Luzzatto (1707–1746) unterscheidet zwischen zwei Sorten von Gottesfurcht: Die Furcht vor einer Strafe bildet die eine Gattung, bei der zweiten, höheren Gattung geht es um Ehrfurcht im Gedanken an die Erhabenheit Gottes. Die Sündenscheu angesichts der Erhabenheit des Schöpfers ist eine sehr hohe Stufe der Frömmigkeit, die zu erreichen keineswegs einfach ist.
In einer Mischna heißt es: »Hillel pflegte zu sagen: Ein Unwissender wird nicht sündenscheu!« (Sprüche der Väter 2,6). Der Unwissende hat nämlich keine Ahnung, was die Tora von einem Juden verlangt; er sündigt und weiß gar nicht, dass er Sünden begeht.
Wer es gelernt hat, von Sünden Abstand zu halten, wird stets besorgt sein, nicht gegen Vorschriften der Tora zu verstoßen. Wie in der eingangs zitierten Talmudstelle (Nedarim 20a) festgestellt wurde: Schamhaftigkeit führt den Menschen zur Sündenscheu.
LOHN Welchen himmlischen Lohn es für die fromme Lebenshaltung gibt und auch zu welcher Strafe die entgegengesetzte Grundhaltung führt, hat Rabbi Jehuda Ben Tema mit einem aussagekräftigen Bild beschrieben: »Der Freche ist auf dem Weg zum Gehinnom und der Schamhafte zum Garten Eden« (Sprüche der Väter 5,24).
Warum dem Frechen eine so drastische Strafe zukommt? In seinem Kommentar bemerkt Rabbenu Menachem Hameïri (1249–1315), dass die Frechheit sowohl zum Hass gegen diejenigen, die zurechtweisen, als auch zur Verabscheuung des rechten Weges führen wird.