Wajechi

Liebt sie, wie sie sind

Jedes Kind so annehmen, wie es ist Foto: imago images / Westend61

Unsere Parascha Wajechi schließt das erste Buch der Tora ab. »Wajechi« heißt auf Deutsch: »Und (er) lebte«, also Jakow lebte.

Es ist der einzige Wochenabschnitt in der Tora, der vom vorhergehenden Abschnitt nicht getrennt ist. Man nennt dies eine »Parascha Stuma«, einen »verschlossenen Abschnitt«.

Geschenk Er ist »verschlossen«, um uns zu sagen, dass Jakow seinen Söhnen offenbaren wollte, wann der Maschiach kommen würde. Jedoch nahm G’tt dieses prophetische Geschenk wieder weg, um sie nicht traurig zu machen, dass es noch lange dauern würde. Deshalb wurde das Kapitel von G’tt »verschlossen«, und als Zeichen dafür ist dieser Abschnitt auch »verschlossen« – ohne Trennung von der vorhergehenden Parascha (Bereschit Raba 96 und Raschi).

Die letzten 17 Jahre seines Lebens verbrachte Jakow in Ägypten. Vor seinem Tod bat er Josef, zu schwören, ihn im Heiligen Land zu begraben. Denn Jakow befürchtete, dass die Ägypter sein Grab in einen Ort des Götzendienstes verwandeln würden (Soncino).

In unserem Wochenabschnitt lesen wir, wie Jakow seine Enkel Menasche und Efrajim, die Söhne seines Sohnes Josef, segnet und sie seinen eigenen Söhnen als Stammväter des Volkes Israel gleichsetzt.

In Erinnerung daran segnen wir heute unsere Kinder vor jedem Schabbat mit den Worten: »Möge G’tt sie mit Efrajim und Menasche vergleichen.« Die beiden hatten ganz besondere Charaktereigenschaften. Sie sind in Ägypten, einem fremden Land, aufgewachsen und haben sich keinen Zentimeter von der heiligen Tora entfernt. Inmitten einer fremden Kultur und eines anderen Volkes haben sie jedes Gebot weiterhin gehalten – so wie wir und unsere Kinder es heute tun sollen.

TIFERET Jakow symbolisiert die Qualität von »Tiferet«. In der Kabbala versteht man darunter so viel wie Pracht oder eine besondere Harmonie. Sie vermag verschiedene Qualitäten zu einem Ganzen zu verbinden, so wie Jakow seine Kinder zu einem ganzen Volk verband. Er liebte jedes Kind in seiner besonderen Art und Persönlichkeit und akzeptierte es so, wie es war.

Jakow nimmt das Talent eines jeden Sohnes, hebt es hervor und segnet ihn entsprechend. Er segnet die Söhne, obwohl sie auch schlechte Eigenschaften hatten. Diese erwähnt er und weist die Söhne darauf hin, dass sie an diesen negativen Eigenschaften arbeiten müssen, um sie zum Besseren zu verändern.

Er beginnt mit Reuwen. Dieser wird getadelt, weil er sich in das Familienleben seines Vaters eingemischt hat. Schimon und Levi tadelt Jakow, weil sie die Stadt Sch’chem zerstört und sich gegen Josef verschworen haben. Ihr Zorn sei verflucht, sagt er – nicht sie selbst, sondern nur ihr Verhalten: der Zorn.

Dann spricht Jakow weiter und segnet die anderen Söhne. Anführer, Gesetzgeber und Könige werden aus dem Stamm Jehuda kommen, Kaufleute aus Zvulun, Toragelehrte aus Issachar, Richter aus Dan, geschickte Krieger aus Gad, Priester aus dem Stamm Levi, Lehrer aus Schimon, diejenigen, die Oliven anbauen, werden aus Ascher kommen. Naphtali ist mit der Leichtigkeit und Schnelligkeit eines Rehs ausgestattet und Josef mit Schönheit und Fruchtbarkeit gesegnet. Binjamin ist die Wildheit des Wolfs.

Jeder erhält den Segen, der zu ihm passt. »Aber in Zukunft werden alle positiven Eigenschaften bis zu einem gewissen Grad auf andere übertragen werden, und selbst negative Eigenschaften wie der Zorn von Levi und Schimon, die unter allen verteilt werden, werden das richtige Maß annehmen und sich in positive Eigenschaften verwandeln (Soncino).

Aus Jakows Beziehung zu seinen Kindern können wir wichtige Erkenntnisse für die Erziehung unserer Kinder entnehmen, die bis heute aktuell sind.

Die wichtigste Grundlage für eine gute Beziehung in der Familie ist, jedes Kind bedingungslos zu lieben, mit allen Unzulänglichkeiten oder Fehlern.

So wie Jakow sollten auch wir unsere Kinder so akzeptieren, wie sie sind.
Wir müssen lernen, unseren Kindern zu sagen, dass wir hier und da mit ihrem Tun nicht zufrieden sind. Doch sollte das Kind niemals das Gefühl haben, als Mensch schlecht zu sein, sondern nur, dass sein Verhalten unerwünscht oder unzulänglich war.

Man kann aus der Tora sehr viel über die richtige Erziehung lernen. Eltern zu sein, ist nicht nur eine großartige und schöne Aufgabe, sondern auch eine, die mit großer Verantwortung verbunden ist. Deshalb ist es wichtig und wertvoll, Quellen der jüdischen Tradition zu haben, die wir zu Rate ziehen können.

MISCHLEI König Schlomo sagt im Buch Mischlei: »Erhebe den Jungen gemäß seinem Weg, damit er, wenn er alt wird, nicht in die Irre geht.« Unsere Kommentatoren fragen: »Um nicht von welchem ›Weg‹ abzuweichen?« Dem Jungen sollen also alle Möglichkeiten geboten werden, sich weiterzuentwickeln. Das heißt, der Kern der Erziehung besteht darin, dem Kind den Wunsch zu vermitteln, sich selbst zu erziehen und weiterzubilden.

Rav Eliyahu Eliezer Desler (1892–1953) definiert das Wesen der Kindererziehung anders. Für ihn ist mit Bildung die Gewissensbildung eines Kindes gemeint.

Es gibt zwei Arten von Eigenschaften in der menschlichen Persönlichkeit: angeborene und erworbene. Einerseits wird ein Kind mit vorgegebenen Charaktereigenschaften und Fähigkeiten geboren. Andererseits ist ein Neugeborenes wie ein leeres Blatt Papier: Im Moment der Geburt beginnt die Bildung seiner Persönlichkeit. Dabei führt die Erziehung dazu, dass sich spirituelle und ethische Richtlinien in der Seele des Kindes festschreiben. Dies ist das Gewissen, von dem Rav Desler spricht.

Rav Yehoshua-Yeshaya Neuwirth (1927–2013) glaubt, dass die Erziehung einem Kind die richtigen Gewohnheiten vermittelt. Die Eltern geben ihren Kindern gute und nützliche Fähigkeiten mit, bis sie zur Gewohnheit werden. Diese Gewohnheiten prägen unseren Charakter.

Auch wenn es unterschiedliche Auffassungen darüber gibt, worin der Kern der Erziehung besteht, sind sich doch alle darin einig, dass es wichtig ist, jedes Kind so zu lieben und so zu akzeptieren, wie es ist. Darum sollten wir uns alle darum bemühen, die besten Eigenschaften aus unseren Kindern herauszuholen, diese zu fördern und ihnen in jedem Fall entsprechende Vorbilder zu sein.

Der Autor studiert am Rabbinerseminar zu Berlin.


Inhalt
Der Wochenabschnitt Wajechi erzählt davon, wie Jakow die Enkel Efrajim und Menasche segnet. Seine Söhne versammeln sich um sein Sterbebett, und er wendet sich an jeden mit letzten Segensworten. Jakow stirbt und wird seinem Wunsch entsprechend in der Höhle Machpela in Hebron beigesetzt. Josef verspricht seinen Brüdern, nun für sie zu sorgen. Später dann, bevor auch Josef stirbt, erinnert er seine Brüder daran, dass der Ewige sie in das versprochene Land zurückführen wird.
1. Buch Mose 47,28 – 50,26

Studium

»Was wir von den Rabbinern erwarten, ist enorm«

Seit 15 Jahren werden in Deutschland wieder orthodoxe Rabbiner ausgebildet. Ein Gespräch mit dem Gründungsdirektor des Rabbinerseminars zu Berlin, Josh Spinner, und Zentralratspräsident Josef Schuster

von Mascha Malburg  21.11.2024

Europäische Rabbinerkonferenz

Rabbiner beunruhigt über Papst-Worte zu Völkermord-Untersuchung

Sie sprechen von »heimlicher Propaganda«, um Verantwortung auf die Opfer zu verlagern: Die Europäische Rabbinerkonferenz kritisiert Völkermord-Vorwürfe gegen Israel scharf. Und blickt auch auf jüngste Papst-Äußerungen

von Leticia Witte  19.11.2024

Engagement

Im Kleinen die Welt verbessern

Mitzvah Day: Wie der Tag der guten Taten positiven Einfluss auf die Welt nehmen will

von Paula Konersmann  17.11.2024

Wajera

Offene Türen

Am Beispiel Awrahams lehrt uns die Tora, gastfreundlich zu sein

von David Gavriel Ilishaev  15.11.2024

Talmudisches

Hiob und die Kundschafter

Was unsere Weisen über die Ankunft der Spione schreiben

von Vyacheslav Dobrovych  15.11.2024

Gebote

Himmlische Belohnung

Ein Leben nach Gʼttes Regeln wird honoriert – so steht es in der Tora. Aber wie soll das funktionieren?

von Daniel Neumann  14.11.2024

New York

Sotheby’s will 1500 Jahre alte Steintafel mit den Zehn Geboten versteigern

Mit welcher Summe rechnet das Auktionshaus?

 14.11.2024

Lech Lecha

»Und du sollst ein Segen sein«

Die Tora verpflichtet jeden Einzelnen von uns, in der Gesellschaft zu Wachstum und Wohlstand beizutragen

von Yonatan Amrani  08.11.2024

Talmudisches

Planeten

Die Sterne und die Himmelskörper haben Funktionen – das wussten schon unsere Weisen

von Chajm Guski  08.11.2024