Der letzte Monat vor Rosch Haschana dient voll und ganz den Vorbereitungen auf die Hohen Feiertage, an denen unsere Beziehung zum Ewigen ihren Höhepunkt erreicht. Vielleicht ist es die Furcht vor der Bestrafung oder auch die Ungewissheit der Zukunft, die uns unsere Verbindung zu G’tt aufs Neue überdenken lässt.
Auch der Klang des Schofars – der ab Beginn des Monats an den Werktagen ertönt – rüttelt die Herzen auf und raubt uns die gewohnte Ruhe des Alltags. Zur Erinnerung: Rosch Chodesch Elul, der erste Tag des Monats Elul, fällt in diesem Jahr auf Sonntag, den 1. September.
Bewusstsein Der in diesem Monat täglich aufgesagte Psalm Davids 27 rückt G’tt durch Vergleiche wie »Der Ewige ist Licht, Heil, Lebens Hort, und auf Ihn soll man hoffen« ins Zentrum unseres Bewusstseins. Durch das Rezitieren der Slichot, der Bußgebete, besonders beim Wiederholen der 13 Eigenschaften der Barmherzigkeit in der letzten Woche des Monats Elul, intensiviert sich noch einmal unser Gefühl der Verbundenheit mit G’tt.
Es ist kein Zufall, dass gerade der Vers »Ani Ledodi we Dodi li« in aller Munde ist.
Die besondere Bindung des Volkes Israel zum Ewigen ist bereits im Namen des Monats Elul tief verankert. Und obwohl die Tora den jüdischen Monaten nur Zahlen verliehen hat, spielen die verwendeten Monatsnamen – die im Laufe des babylonischen Exils in die jüdische Kultur Einzug halten – eine enorm wichtige Rolle in der Deutung der jeweiligen Periode (Abschnitt) im jüdischen Kalender. Der Monat Nissan zum Beispiel trägt diesen Namen, weil sich in diesem Monat viele Wunder (Nissim) im Zusammenhang mit dem Auszug aus Ägypten ereignet haben.
Akronym Der Name Elul wird von den Weisen unterschiedlich gedeutet. Dabei sucht man nach Versen in der Heiligen Schrift, deren hebräische Wörter mit den Buchstaben ELUL (Alef, Lamed, Waw, Lamed) anfangen, wie zum Beispiel der Vers im 5. Buch Mose 30,6 (»Und der Ewige, dein G’tt, wird dein und deines Samens Herz beschneiden – et lewawcha we’et lewaw sar’echa«). Der Name steht für das Thema der Rückkehr zum Ewigen.
Die Eigenschaften der Wohltätigkeit und der Zedaka kommen zum Vorschein durch den Vers im Buch Esther 9,22, dessen Worte ebenfalls mit ELUL beginnen: »der Sendung von Gaben aneinander und von Geschenken für die Armen machen – isch lereehu umatanot la-ewjonim«).
Jedoch entspringt die bekannteste Deutung des Monats Elul einem Vers im Hohen Lied 6,3 (»Ich bin meines Liebsten, mein Liebster ist mein – Ani Ledodi we Dodi li«) – wobei »Dod« in der hebräischen Sprache auch »Onkel« bedeutet.
Alle vier Wörter aus Hohen Lied Salomons enden mit dem Buchstaben Jud, was dem Zahlenwert 40 entspricht.
Eigenschaft Dieser Vers deutet auf eine weitere Eigenschaft des Elul hin – das Gebet. Diese drei Eigenschaften des Monats Elul werden besonders in der Liturgie des Neujahresgebetes betont: »uTschuwa uTfila uZdaka maawirin et roa hagsera – doch Rückkehr, Gebet und Wohltun wenden das böse Verhängnis ab«.
Alle vier Wörter aus dem bereits zitierten Vers im Hohen Lied Salomons enden mit dem Buchstaben Jud, was dem Zahlenwert 40 entspricht – ein Hinweis auf die Spanne der Zeit der Rückkehr, denn es sind 40 Tage vom Beginn des Monats Elul bis zu Jom Kippur, dem Versöhnungstag. Genauso lange verbrachte Mosche auf dem Berg Sinai, um die Verzeihung des Ewigen nach der Sünde des Goldenen Kalbs zu erwirken und neue Bundestafeln zu erhalten (Mischna Brura 581,1).
Natürlich gibt es noch weitere Verse im Tanach, der Hebräischen Bibel, in denen die Anfangsbuchstaben der Wörter das Wort »Elul« bilden, und doch es ist kein Zufall, dass gerade der Vers »Ani Ledodi we Dodi li« in aller Munde ist.
Vorbereitung Falls wir den Elul als reine Vorbereitungsphase auf Rosch Haschana betrachten – den Tag des Gerichts, an dem der Ewige über Seine Schöpfung gekrönt wird –, so wäre die Bezeichnung des Ewigen als König und der Schöpfung als Seine Diener passend. Jedoch ist diese Beziehung, auf die wir uns den ganzen Monat vorbereiten, am Neujahrsfest alles andere als vollkommen. Doch die Beziehung zwischen G’tt und dem von ihm geschaffenen Menschen hat im Elul eine ganz eigene Qualität.
Sündenbekenntnis Denn an beiden Tagen von Rosch Haschana sind wir darauf bedacht, die im vergangenen Jahr begangenen Sünden mit keinem Wort zu erwähnen. Deshalb wird das Widuj, das Sündenbekenntnisgebet, gar nicht gesprochen. Die Vorsicht geht so weit, dass Rama (Rabbiner Mosche Isserles aus dem 16. Jahrhundert in Krakau) in seinen Anmerkungen zum Schulchan Aruch Orach Chaim 583,2 den Brauch erwähnt, während Rosch Haschana keine Nüsse zu essen, weil der Zahlenwert des Wortes Nuss dem Zahlenwert des Wortes Sünde entspricht.
Taschlich Durch die Befolgung des Taschlich-Brauchs am ersten Tag von Rosch Haschana wünschen wir uns, die Sünden würden für immer in der Tiefe des Meeres verschwinden. Der Grund, warum die Sünden an Rosch Haschana nicht erwähnt und sogar keineswegs angedeutet werden, könnte die aus dem Vers im 5. Buch Mose 17,15 resultierende und im Talmud Kidduschin 32b und Sanhedrin 19b erwähnte Vorschrift sein, dass der Verzicht eines Königs auf eine Ehrung ungültig ist. Das heißt, ein König muss immer als König agieren, sogar gegenüber seiner eigenen Familie.
Die Beziehung zwischen dem Volk Israel zum Ewigen ändert sich an Jom Kippur ganz grundsätzlich. Erst dieser Fastentag versöhnt uns mit dem Ewigen, nachdem Er uns die Sünden verzeiht. In der Tat, an Jom Kippur scheuen wir nicht davor zurück, die Sünden vor dem Ewigen aufzuzählen – das Gebot des Sündenbekenntnisses erfüllen wir dann ganze zehn Mal.
Im Hohelied heißt es passend zum Elul:
»Ich bin meines Liebsten, mein Liebster ist mein.«
Und das tun wir, weil an Jom Kippur unsere Beziehung zum Ewigen den Charakter einer Vater-Sohn-Beziehung hat. Auch wenn der König in seiner Rolle sogar seinem Sohn gegenüber befangen ist, so kann er als der Vater auf seine Ehrung verzichten, und dieser Verzicht ist nach dem Gesetz gültig (Schulchan Aruch, Jore Dea 240).
Sukkot Am Laubhüttenfest intensiviert sich die Beziehung zwischen G’tt und Seinem Volk und erreicht ihren Höhepunkt. Nach der Meinung von Rabbi Eliezer (Traktat Sukka 11b) erinnert eine Sukka an die Wolken der Herrlichkeit, die während der 40-jährigen Wanderung durch die Wüste das Volk Israel von allen Seiten beschützt haben.
In der Sukka spüren wir förmlich die Präsenz G’ttes. Im Hohelied 1,4 präzisiert König Salomon, dass die Sukka die Gemächer des Königs symbolisiert (»In seine Zimmer hat der König mich gebracht«).
Oft wird die minimale Anzahl der Wände einer koscheren Sukka (drei Wände) mit einer Umarmung des Ewigen verglichen, denn eine volle Umarmung erfolgt mit allen Teilen des Arms (Ober- und Unterarm, Hand).
Nicht umsonst wird das Laubhüttenfest mit einer Hochzeit zwischen dem Ewigen und dem Volk Israel verglichen. Interessant erscheint die Tatsache, dass die Tora gerade zum Sukkotfest gebietet, sich am Fest zu freuen (5. Buch Mose 16,14: »Und du sollst dich deines Festes freuen«).
Hochzeit Die siebentätige Dauer des Festes erinnert unweigerlich an die Zeit nach der Hochzeit (Schewa Brachot), in der die Gäste sieben Tage lang die Frischvermählten segnen. Dabei übernehmen die »Uschpisin« die Rolle der »Panim Chadaschot« – neue Gäste, die sich zu der Hochzeitsgesellschaft hinzugesellen und die Freude teilen. Nach aschkenasischer Auslegung reicht dafür nur ein einziger neuer Gast.
Doch obwohl diese neue Stufe der Beziehung zwischen G’tt und Israel die innigste ist, wird auch sie von den Weisen als nicht vollkommen angesehen. Der Grund dafür liegt auf der Hand. Einer Ehe geht eine lange Suche voraus. Es wird geprüft, ob die Partner zueinander passen. Und nur, wenn beide Partner der Ehe zustimmen, wird geheiratet. Auch ist die jüdische Chuppa keine »katholische Hochzeit« und kann jederzeit geschieden werden.
Nicht umsonst wird das Laubhüttenfest mit einer Hochzeit zwischen dem Ewigen und dem Volk Israel verglichen.
Die Beziehung, die Rosch Haschana symbolisiert (G’tt in der Rolle des Königs und Israel als Diener), ist deshalb unvollkommen, weil der Diener die ganze Zeit vor dem König in Angst und Furcht verweilt. Hinzu kommt, dass der König in seiner Rolle gefangen ist und auf seine Ehrung nicht verzichten kann.
Losung Auch die Beziehung zwischen Vater und Sohn, wofür Jom Kippur steht, lässt einiges zu wünschen übrig, denn obwohl der Vater dem Sohn verzeiht und ihm seine Liebe zeigt, muss er trotzdem gewisse Regeln aufstellen, denn ihm obliegt, den Sohn zu erziehen. Manch einer erinnert sich bestimmt noch an Worte wie »Solange du unter meinem Dach wohnst« oder Ähnliches. Enzig die Losung des Elul (»Ani Ledodi we Dodi li«) wird von den Weisen als die Beziehung überhaupt angesehen.
Der Autor des Buches Divrej Moed, Rabbiner David Nachum Goldstoff aus Israel, untersucht in diesem Zusammenhang die Beziehung zwischen dem Ewigen und Israel und folgert, dass die Beziehung zwischen einem Onkel und seinem Neffen oder seiner Nichte keiner Suche bedarf. Sie beginnt unmittelbar mit der Geburtsstunde des Neffen oder der Nichte.
Diese Beziehung endet auch mit keiner Scheidung, es wird daraus niemals eine Ex-Beziehung. Dem Onkel obliegt auch nicht, den Neffen zu erziehen, er ist auch nicht wie der König in seiner Rolle befangen, um ihm eventuell zu verzeihen oder seine Liebe zu zeigen. Ein Onkel freut sich immer über seinen Neffen und verwöhnt ihn auch gerne.
Hoffnung Bei der Betrachtung der guten und schlechten Taten des zu Ende gehenden Jahres kann es passieren, dass jemand denkt, der Ewige wolle mit ihm nichts mehr zu tun haben. Schnell könnten die Zuversicht, die Hoffnung und die Lust zum Handeln verloren gehen.
Deshalb hat König Salomon in seiner Weisheit gerade die Beziehung des Onkels erwähnt, des Onkels, der sich über seine Neffen freut, seine Neffen liebt, und das für immer und ewig!
Jedoch müssen wir beachten, dass der Vers nicht umsonst aus der Sicht des Neffen beginnt (»Ani Ledodi«). Es ist also an uns, die Beziehung zum Ewigen aufzunehmen, und dann erfüllt sie sich auch (»we Dodi li«).
Der Autor ist Rabbiner der Jüdischen Kultusgemeinde Groß-Dortmund und Mitglied der Orthodoxen Rabbinerkonferenz Deutschland (ORD).