Purim

Liebe, Hass und Happy End

Hollywood. Die Traumfabrik. Das Synonym für die einst auf Zelluloid und heutzutage auf digitale Medienträger gebannten bewegten Bilder, die zu Beginn des vorigen Jahrhunderts eine neue Ära schufen und die Welt bis zum heutigen Tage nachhaltig verändert haben. Es waren überwiegend Juden, die die kalifornische Metropole zu dem Wahrzeichen von Film und Kino entwickelten und ihren Träumen das Laufen beibrachten.

Louis Mayer gründete Metro-Goldwyn-Mayer, Adolph Zukor schuf Paramount Pictures, William Fox baute die Fox Film Corporation auf, Benjamin Warner und vier seiner Söhne riefen die Warner Brothers ins Leben, und Carl Laemmle gründete Universal Pictures.

Und wenn sich die Purim-Handlung nicht bereits vor gut 2.400 Jahren abgespielt hätte, gerade und insbesondere die jüdischen Filmemacher hätten sie glatt erfinden können. Denn diese Geschichte, die die Grundlage für einen der eher seltenen freudigen und ausgelassenen jüdischen Feiertage bildet, enthält alle Zutaten, um einen spannenden Kassenschlager produzieren zu können: Liebe, Hass, Intrigen, Freundschaft, Mut, jede Menge Action und einen – zumindest für die Juden – existenziellen Kampf zwischen Gut und Böse samt klassischem Happy End.

Zwar gab es tatsächlich schon einige Ansätze, den Stoff dieser Geschichte zu verfilmen, aber keiner dieser Versuche vermochte es bisher, den Ereignissen um die Errettung des jüdischen Volkes einen filmischen Rahmen zu verpassen, der das Publikum begeistert hätte.

Geschichte Das ist umso unverständlicher angesichts der historischen Steilvorlage, die die Purimgeschichte bietet. Sie ist in einer eigenen Schriftrolle, der Megillat Esther, niedergeschrieben und wird alljährlich in den jüdischen Gemeinden gelesen: Sie spielt im Jahr 356 vor der Zeitrechnung.

Der persische König Ahasveros (besser als Xerxes bekannt), hat gerade die widerspenstige Königin Waschti vom Hofe verbannt und veranstaltet einen Schönheitswettbewerb in seinem Herrschaftsbereich, um eine neue Königin für den königlichen Harem zu finden. Das jüdische Mädchen Esther, das seine jüdische Abstammung auf Ratschlag seines Onkels Mordechai zunächst geheim hält, gewinnt den Wettbewerb und das Herz des Herrschers und avanciert zur neuen und des Regenten liebster Königin.

Währenddessen sinnt der Bösewicht Haman, der Premierminister des Königs, auf Rache, weil Esthers Onkel Mordechai ihm die zur Bestätigung seiner eigenen Wichtigkeit als Minister geforderte Verbeugung beharrlich mit dem Hinweis verweigert, dass ein Jude sich nur vor G’tt selbst verbeugen dürfe.

Mordplan Der selbstsüchtige und egozentrische Haman erträgt diese Demütigung nicht und schmiedet den Plan, sämtliche Juden, egal, ob Männer, Frauen oder Kinder, ermorden zu lassen. Durch eine List erschleicht er sich die Zustimmung des Königs für den geplanten Massenmord und wählt mittels eines Loses – von dessen persischem Begriff »pur« sich der Name des Festes »Purim« ableitet – den Monat Adar für die Umsetzung seiner Pläne.

Esther bleibt nichts anderes übrig, als Farbe zu bekennen: Um ihr Volk zu retten, riskiert sie ihr eigenes Leben, indem sie dem König ihre wahre Abstammung offenbart und ihn bittet, seine Entscheidung zu revidieren. Der König, der sich durch eine Reihe vermeintlicher Zufälle daran erinnert, dass Esthers Onkel Mordechai ihn einst vor einem Mordkomplott gewarnt und damit seine Loyalität und Treue bewiesen hatte, erkennt die wahren Absichten seines boshaften Ministers Haman und lässt ihn an ebenjenen Galgen aufhängen, der ursprünglich für Mordechai errichtet worden war.

Die Juden des Reiches hingegen dürfen sich zu ihrer Selbstverteidigung bewaffnen und trotzen den Schergen Hamans in einem zweitägigen Kampf auf Leben und Tod. Am Ende schließlich ist die existenzielle Bedrohung des jüdischen Volkes durch den Mut Esthers und ihres Onkels und die im Kampf obsiegenden Juden Persiens abgewendet.

Wunder Die Eignung für die Filmschaffenden Hollywoods würde sich allerdings noch aus einem anderen Grund anbieten: Eine Produktion wäre verhältnismäßig kostengünstig, weil auf teure und aufwendige Spezialeffekte für die Darstellung g’ttlicher Wunder verzichtet werden könnte. Denn aufmerksamen Lesern der Megillat wird auffallen, dass nicht nur G’tt in der gesamten Purimgeschichte nicht ein einziges Mal vorkommt.

Auch biblische Wunder, diese der – zunehmend rational und von dem Verlangen wissenschaftlicher Nachweisbarkeit geprägten – Gesellschaft eher fremden Materialisierungen g’ttlichen Wirkens, sind weit und breit nicht auszumachen. Weder werden die Protagonisten von Plagen heimgesucht (mit Ausnahme der menschlichen Plage des niederträchtigen Haman), noch werden Ozeane geteilt oder kämpfende Engel auf die Erde gesandt.

Die scheinbare Abwesenheit G’ttes und seines Wirkens machen Purim zu einem wichtigen und bedeutsamen jüdischen Feiertag. Scheinbar deshalb, weil G’tt natürlich wirkt. Er tut es allerdings gewissermaßen hinter den Kulissen. Seine Präsenz offenbart sich in den vermeintlichen Zufälligkeiten dieser Geschichte, durch diese ungeordnet und unvorhersehbar wirkende Abfolge von Ereignissen, die abseits von einer Wahrscheinlichkeitsrechnung oder der Auslotung des statistisch Möglichen ein vollständiges, von g’ttlichem Wirken durchsetztes Bild ergeben. Die tiefer gehende Bedeutung lehrt, dass es nicht immer großer Wunder biblischen Ausmaßes bedarf, um sich g’ttlicher Existenz bewusst zu werden.

Verborgen Es reicht manchmal schon, wenn wir uns die Mühe machen, von den allgegenwärtigen, aber oftmals verborgen scheinenden Wundern, die die Welt, die Natur und das Leben für uns bereithalten, Notiz zu nehmen und die gelegentlich so seltsam anmutenden und oft ungeordnet scheinenden Ereignisse in unserem Leben mal aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten. Wen wundert es da noch, dass der Name der Hauptprotagonistin Esther im Hebräischen auch »verborgen« oder »versteckt« bedeutet.

Doch das Purimfest bietet noch eine weitere Besonderheit: Während der Genuss von Alkohol – abgesehen von dem an Schabbat und den Festtagen über den Wein gesprochenen rituellen Segen – im Judentum eher unüblich und das hemmungs- und grenzenlose Betrinken gar verpönt ist, gilt an Purim – und mit Einschränkungen an Pessach – eine Ausnahme.

Hintergrund ist das in der Megillat Esther aufgestellte Gebot, diesen Tag mit Essen und mit alkoholischen Getränken zu feiern. Wobei es geboten ist, so viel zu trinken, bis man den Unterschied zwischen »Gelobt sei Mordechai« und »Verflucht sei Haman« nicht mehr kennt.

Alkoholgenuss Diese Ermunterung zu regem Alkoholgenuss erklärt sich daraus, dass der Wein in der Purimgeschichte an mehreren entscheidenden Stellen vorkommt: Es war der Wein, der das Herz des Königs fröhlich werden ließ, sodass er von seiner damaligen Königin Waschti einen Striptease vor dem versammelten Hofstaat verlangte und die er, nach deren Weigerung vom Zorn übermannt, verbannte, womit sie den Weg für die neue Königin Esther ebnete. Und es war ebenfalls ein Weinbankett, zu dem Esther den König eingeladen hatte, um dabei das Geheimnis ihrer Herkunft zu lüften und das letztlich zum Fall Hamans führte.

An Purim besteht neben dem Brauch der von Alkohol und Freude begleiteten Festmahlzeit, dem Gebot des Lesens der Megillat Esther, also der Schriftrolle, in der die Purimgeschichte niedergeschrieben ist, als auch die Tradition der Mischloach Manot. Diese bezeichnet das Gebot, Freunden und Nachbarn Speisen und Süßigkeiten – jiddisch: Schlachmones – zukommen zu lassen, um den fröhlichen Anlass mit gegenseitigen Geschenken zu feiern.

Gefühlvoller und dem eigentlichen Sinn näherkommend ist allerdings das Gebot, auch den Armen und Bedürftigen Geschenke oder Speisen zu schicken und ihnen insbesondere Geldspenden zukommen zu lassen. Die Freude über die Rettung des jüdischen Volkes und das ausgelassene Feiern dürfen den Blick auf die Bedürftigen und Schwachen in unserer Mitte, die unserer Hilfe und Unterstützung so dringend bedürfen, nicht verstellen.

Verantwortung Keinem der Notleidenden soll das Begehen des Purimfestes wegen mangelnder finanzieller Leistungskraft unmöglich gemacht werden. Die Verantwortung eines jeden von uns für das Wohlergehen seines in Not geratenen Nächsten hilft nicht nur, die Würde des Bedürftigen zu erhalten, sondern formt auch uns selbst, hin zu besseren Menschen und für eine humanere und gerechtere Welt.

Noch einmal zurück zur amerikanischen Traumfabrik: Vielleicht ist es ja gar nicht so schlecht, dass die bisherigen Verfilmungen der Purimgeschichte eher zweitklassig waren. Denn sonst würden wir irgendwann Gefahr laufen, dass die alte Tradition der jährlichen Lesung der Megillat Esther, zu der die Kinder maskiert kommen und mit sogenannten Ratschen bei jeder Erwähnung des Namens Haman einen Riesenlärm machen, irgendwann durch das Anschauen eines Fernsehfilms in den heimischen vier Wänden abgelöst würde.

Ich nehme mal an, dass G’tt an den bisherigen filmischen Misserfolgen daher nicht ganz unschuldig ist. Und auf einen künftigen Kassenschlager würde ich vor diesem Hintergrund auch nicht wetten wollen.

Der Autor ist Geschäftsführer des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden in Hessen.

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