Ich führe ein Leben in geordneten Bahnen. Ich wohne in Zürich und werde wahrscheinlich hier auch sterben. Sehr selten überschreite ich die Stadtgrenzen. Hier kenne ich halt alles. Ich weiß, welchen Bus ich nehmen muss und wo man guten Kaffee trinken kann. In den letzten fünf Jahren war ich nur einmal im Ausland. Das war 2009. Die Reise führte mich nach Berlin. Es gefiel mir dort überhaupt nicht. Das Leben da ist viel zu hektisch und orientierungslos. Nach zwei Tagen hatte ich starkes Heimweh nach Zürich.
Seewind Im Grunde genommen führe ich ein sehr langweiliges Leben. Aber das empfinde ich nicht als Makel. Im Herbst die bunten Blätter tanzen zu sehen, den frischen Seewind zu spüren, unter einer großen Kastanie eine Zürcher Zeitung zu lesen, das gefällt mir sehr. Andere in meinem Alter bereisen die Kontinente – ich freue mich, wenn ich ein neues Gässchen entdecke.
Wenn die Sommerferien nahen und meine Frau den Urlaub plant, werde ich immer grantig. Was soll ich in anderen Städten mehr erleben als hier in Zürich? Außerdem kostet so ein Urlaub eine Stange Geld. Nein, nein, bleiben wir besser in Zürich und genießen hier die schöne Atmosphäre.
Nur einmal im Jahr muss ich doch weggehen: zum Militär. In der Schweiz gibt es für jeden Wehrpflichtigen einmal im Jahr einen Wiederholungskurs. Die Tüchtigen werden Piloten, Panzerfahrer oder Logistiker. Die Dummen verrichten Handlanger-Jobs. Ich, leider, bin in der Schweizer Armee nie richtig aufgefallen. Die Kampfbahn habe ich nie fertig geschafft, beim Marschieren humpelte ich, und wie man richtig salutiert, habe ich erst in der vorletzten Ausbildungswoche gelernt.
Konsequenz: Seit Jahren werde ich in ein kleines Dörfchen bestellt, um drei Wochen lang Uniformen zu sortieren. Anfangs hat mich das sehr genervt: Uniformen sortieren! Lieber wäre ich Feldrabbiner oder Fallschirmspringer geworden. Aber mit den Jahren hat sich der Ärger gelegt. Hier werde ich in Ruhe gelassen und darf alle zwei Stunden einen Kaffee aus dem Automaten trinken.
Fräuleins Wenn ich am Abend mit dem Zug nach Hause fahre, spüre ich die Blicke der Dorfjugend. Ich schmunzle dann und genieße die Aufmerksamkeit. In der Bäckerei werde ich zuerst bedient, und junge Fräuleins gucken mich verschämt an. Ich denke, das bilde ich mir nicht ein, nein, das ist wirklich so! Auch am Schabbes schwillt meine Brust.
Ich bete in einer orthodoxen Gemeinde. Dort dient niemand mehr in der Armee. Wer nicht in Israel studiert, hat von einem befreundeten Arzt einen Krankenschein erhalten, dass er nicht mal 100 Gramm Last tragen kann, wegen des Rückens. Ich finde das sehr schade. Andererseits macht es mich umso stolzer, dass ich der Einzige in dieser großen jüdischen Gemeinde bin (inklusive Rabbiner), der weiß, wie man Uniformen richtig faltet.
Aber jetzt ist alles vorbei. Vergangene Woche war die Verabschiedung meines Jahrgangs aus dem Heer. Noch einmal durfte ich in meiner Uniform stramm stehen. Dann erklang die Nationalhymne, und dann war Soldat Frenkel fertig. Nun bin ich wieder ein normaler, jüdischer Zivilist.
Die jüdische Gemeinde hat mit mir ihren letzten Soldaten verloren. Das beschäftigt mich sehr.