17. Tamus

Letzte Abmahnung

Der Fastentag zu Beginn der Trauerperiode erinnert uns: Wir haben das Schicksal selbst in der Hand

von Rabbiner Avichai Apel  25.06.2018 19:31 Uhr

Thomas Müller bekommt beim WM-Spiel Deutschland gegen Mexiko eine Gelbe Karte. Foto: imago

Der Fastentag zu Beginn der Trauerperiode erinnert uns: Wir haben das Schicksal selbst in der Hand

von Rabbiner Avichai Apel  25.06.2018 19:31 Uhr

Warum müssen wir Juden so oft fasten? Vier von insgesamt sechs Fastentagen im jüdischen Kalender sind mit der Zerstörung des Tempels verbunden. Es sind historische Momente, die zur Zerstörung geführt haben. Am 10. Tewet wurde die Stadt Jeruschalajim umzäunt. Am 9. Aw wurde der jüdische Tempel zerstört. Am 3. Tischri wurde der Anführer der in Israel verbliebenen Juden von seinem eigenen Mitbruder ermordet. Doch was geschah am 17. Tamus? Warum ist uns dieser Tag so wichtig, dass wir fasten sollen?

Die Mischna zählt im Traktat Taanit 4,6 fünf Ereignisse auf, die alle am 17. Tamus stattfanden. Diese fünf Ereignisse spiegeln fünf Etappen des Absturzes des jüdischen Volkes wider. Das erste Ereignis geschah kurz nach dem Auszug aus Ägypten: Die zwei Gesetzestafeln wurden zerbrochen. Mosche kam nach 40 Tagen zurück vom Berg Sinai, wo er bei G’tt gelernt und am Ende zwei Tafeln mitgenommen hatte – die beiden Tafeln, die G’tt selbst geschrieben hatte.

Sünde Als Mosche vom Berg stieg, sah er das Volk sündigen, wie in der Tora geschrieben steht: »Als Mosche aber nahe zum Lager kam und das Kalb und das Tanzen sah, entbrannte sein Zorn, und er warf die Tafeln aus der Hand und zerbrach sie unten am Berg« (2. Buch Mose 32,19). Unter diesen Umständen sah Mosche keinen Grund, dem Volk die Tafeln auszuhändigen.

Doch es dauerte nicht lange, bis Mosche wieder auf den Berg stieg, um vor G’tt um Versöhnung zu beten. Er kam am 10. Tischri, also an Jom Kippur, dem Versöhnungstag, wieder mit zwei Tafeln zurück. Diesmal waren es aber die beiden Tafeln, die er im Auftrag geschrieben hatte: »Und der Herr sprach zu Mosche: Haue dir zwei steinerne Tafeln, wie die ersten waren, dass Ich die Worte darauf schriebe, die auf den ersten Tafeln standen, welche du zerbrochen hast« (2. Buch Mose 34,1).

Das Zerbrechen der beiden Bundestafeln konnte Mosche durch seine Gebete wiedergutmachen. Doch an den weiteren Fällen, die die Mischna schildert, war leider nichts zu ändern. Was sind die vier weiteren Unglücke in der jüdischen Geschichte, die sich am 17. Tamus ereigneten?

Korban Tamid Es handelt sich um die Unterbrechung des Korban Tamid, des täglichen und ewigen Opfers im Tempel, die Durchbrechung der Stadtmauer von Jerusalem und zwei weitere Ereignisse, die nur mit dem Wort »Tradition« erklärt werden. Wir erfahren also nur durch die Überlieferung, dass beides am 17. Tamus geschah.

Der Talmud erzählt uns die Geschichte eines griechischen Offiziers mit dem Namen Apostomos, der zur Zeit des Zweiten Tempels lebte und eine Torarolle Esras verbrannt haben soll. Es gab viele Versuche, Apostomos zu identifizieren, aber keiner dieser Versuche ist überzeugend. Außerdem schildert das Buch Daniel, dass am 17. Tamus ein Götzenbild im Tempel aufgestellt wurde – wobei nicht klar ist, ob besagter Apostomos der Übeltäter war oder eine andere historische Person.

In der Zeit des Ersten Tempels wurde die Stadt Jeruschalajim von den Babyloniern und in der Zeit des Zweiten Tempels von den Römern umzäunt. Man konnte die Stadt also weder betreten noch verlassen. Dieser Umzäunung gedenken wir am 10. Tag des Wintermonats Tewet – dem Tag, an dem sie begonnen hat.
Doch die Belagerung hörte nicht auf.

Im Gegenteil, die Lage spitzte sich im Verlauf von mehreren Monaten bis in den Sommer hinein zu. Es wurde immer schlimmer, sodass es nichts mehr zu essen gab und sich auch keine Schafe mehr auftreiben ließen, um das tägliche und ewige Opfer im Tempel darzubringen.

Blockade Das bedeutete: Was den Juden Tag für Tag die Kraft gegeben hatte, wurde abgeschafft. Man verlor die Hoffnung, weil man sah, dass nichts mehr existierte, um in solch einer schweren Zeit der Blockade G’tt näher zu kommen.

Als aber dann auch noch die Mauern der Stadt Jeruschalajim von babylonischen und später, in der Zeit des Zweiten Tempels, von römischen Soldaten eingerissen wurden, bedeutete das eine weitere Eskalationsstufe auf dem Weg zur Zerstörung des Tempels und zur Vertreibung der Juden aus Israel.

Es war ein Zeitpunkt, ab dem es kaum möglich war, noch etwas zum Positiven zu wenden: Am 17. Tamus fielen die feindlichen Soldaten in die Stadt ein. Die letzte Schlacht begann, viel intensiver und aggressiver als die vorausgegangenen Kämpfe. Wenn Soldaten eine Stadt erobern, fällt es ihnen oft schwer, ihre individuelle Motivation unter Kontrolle zu bekommen. Zum Teil sind es Soldaten, die die Befehle ihres Königs erfüllen. Zum Teil sind es auch Menschen, die mit Hass aufgewachsen sind.
Apostomos war möglicherweise ein römischer Soldat, der voller Hass auf die Juden war und keinen fairen Krieg im Namen seines Königs führte. Aus eigener Motivation nahm er die Torarolle, das Herz seiner Gegner, und verbrannte sie.

Torarolle Noch vor der tatsächlichen Zerstörung des Tempelgebäudes taten die Feinde alles, um die Idee der Existenz des jüdischen Zentrums zu vernichten. Der Tempel war der Ort des Glaubens an einen einzigen G’tt, die Quelle des Monotheismus. Ausgerechnet an dieser Stelle stellten die Römer ein Götzenbild auf. Entsprechend ihrer Philosophie und ihrem Glauben wollten sie dort, in unserem Heiligtum und Zentrum des Judentums, einen Götzen sehen und ihn allen zeigen.

Wie schwer das für uns alle war, kann man sich gar nicht vorstellen. Hier geht es nicht um die Frage, wer sterben und wer am Leben bleiben wird, hier geht es auch nicht um die Frage, aus welchem Buch wir unsere Traditionen weiter lernen können.
Hier geht es um die Frage der Hoffnung: Haben wir noch Hoffnung? Sollen wir weiter für unsere Rettung beten? Wird G’tt unsere Gebete erhören und den Erlöser zu uns schicken? Wenn unsere Feinde unser Allerheiligstes verunreinigt haben, gibt es dann noch eine Chance für unser Überleben?

Bedrängnis Die drei Wochen zwischen dem 17. Tamus und dem 9. Aw (Tischa beAw), dem Trauer- und Fastentag zum Gedenken an die Zerstörung der beiden Tempel, nennt man auch die Zeit der Bedrängnis (Bejn Hamezarim). Dies bezieht sich auf eine Stelle im Buch Echa (Klagelieder): »Kol Rodfeha Hissiguha Bejn Hamezarim – alle seine Verfolger erreichten es mitten in der Bedrängnis.«

Ab dem 17. Tamus werden verschiedene Trauerriten zelebriert. Mit dem Beginn des Monats Aw werden diese Bräuche umso strenger eingehalten, je näher der 9. Aw rückt. Denn mit dem Fasten am 17. Tamus beginnt auch die dreiwöchige Trauerperiode, die im 9. Aw (Tischa beAw) gipfelt und mit ihm endet.

Heute ist es allgemeiner Brauch, ab dem 1. Aw keinen Wein zu trinken und kein Fleisch zu essen, weil beides Symbole der Freude sind. Wein ist deshalb nicht erlaubt, weil mit dem Ende des Korban Tamid am 17. Tamus auch die Trankopfer beendet wurden. Der Segensspruch »Schehechejanu« (»der Du uns Leben und Erhaltung gegeben und diese Zeit hast erreichen lassen«) wird üblicherweise nicht zwischen dem 17. Tamus und dem 9. Aw gesagt.

Stationen Der 17. Tamus gilt als die letzte Abmahnung, bevor etwas noch Schlimmeres kommt. Besser gesagt, gilt dieser Tag als letzte Erinnerung daran, dass man noch etwas verändern kann. So wie Mosche es damals am Berg Sinai geschafft hat, die Fehler des jüdischen Volkes zu korrigieren, können auch wir das schaffen. Wir haben also mehrere Stationen, um darüber nachzudenken und um unser »Schicksal« selbst in die Hand zu nehmen und an uns und unserer Haltung zu arbeiten.

So sagt auch der Prophet Secharja, dass all die Fastentage zu freudigen Tagen werden, sobald wie möglich und mit G’ttes Hilfe: »So sprach der Ewige: Das Fasten des Vierten, das Fasten des Fünften, das Fasten des Siebenten, das Fasten des Zehnten, werden soll’s dem Hause Jehuda zu Lust, zu Freude, zu guten Festgezeiten – aber die Treue und den Frieden liebet!« (Secharja 8,19).

Der Autor ist Rabbiner der Jüdischen Gemeinde Frankfurt am Main und Vorstandsmitglied der Orthodoxe Rabbinerkonferenz Deutschland (ORD).

Chaje Sara

Handeln für Generationen

Was ein Grundstückskauf und eine Eheanbahnung mit der Bindung zum Heiligen Land zu tun haben

von Rabbiner Joel Berger  22.11.2024

Talmudisches

Elefant

Was unsere Weisen über die Dickhäuter lehrten

von Rabbiner Netanel Olhoeft  22.11.2024

Studium

»Was wir von den Rabbinern erwarten, ist enorm«

Seit 15 Jahren werden in Deutschland wieder orthodoxe Rabbiner ausgebildet. Ein Gespräch mit dem Gründungsdirektor des Rabbinerseminars zu Berlin, Josh Spinner, und Zentralratspräsident Josef Schuster

von Mascha Malburg  21.11.2024

Europäische Rabbinerkonferenz

Rabbiner beunruhigt über Papst-Worte zu Völkermord-Untersuchung

Sie sprechen von »heimlicher Propaganda«, um Verantwortung auf die Opfer zu verlagern: Die Europäische Rabbinerkonferenz kritisiert Völkermord-Vorwürfe gegen Israel scharf. Und blickt auch auf jüngste Papst-Äußerungen

von Leticia Witte  19.11.2024

Engagement

Im Kleinen die Welt verbessern

Mitzvah Day: Wie der Tag der guten Taten positiven Einfluss auf die Welt nehmen will

von Paula Konersmann  17.11.2024

Wajera

Offene Türen

Am Beispiel Awrahams lehrt uns die Tora, gastfreundlich zu sein

von David Gavriel Ilishaev  15.11.2024

Talmudisches

Hiob und die Kundschafter

Was unsere Weisen über die Ankunft der Spione schreiben

von Vyacheslav Dobrovych  15.11.2024

Gebote

Himmlische Belohnung

Ein Leben nach Gʼttes Regeln wird honoriert – so steht es in der Tora. Aber wie soll das funktionieren?

von Daniel Neumann  14.11.2024

New York

Sotheby’s will 1500 Jahre alte Steintafel mit den Zehn Geboten versteigern

Mit welcher Summe rechnet das Auktionshaus?

 14.11.2024