Seit Kurzem hat mein Göttergatte Alain einen neuen Spleen: Er will mehr Spiritualität in sein Leben bringen. Die erste Mizwa des Tages zieht er bereits um sieben Uhr früh durch, beim Morgengebet in der Schulsynagoge unserer Kinder mit Rabbi G. So hat sich unser Leben in eine Art sadistisches Army Boot Camp verwandelt: Jeden Morgen um Schlag fünf schnellt Alain wie eine Sprungfeder aus dem Bett und teilt sofort nach allen Seiten Militärkommandos aus: Kind 1, zack zack, antreten zum Essen! Kind 2, raus aus den Pampers, rein in die Pampers! Kind 3, Schnuller raus, Mund auf, Flasche rein, hopp hopp!
Wenn die Mannschaft dann Punkt 6.45 Uhr keuchend und schwitzend im Auto sitzt, fängt der Irrsinn erst richtig an: Alain ignoriert rote Ampeln und zur Seite hechtende Passanten, führt halsbrecherische Überholmanöver durch, holt alle fünf Minuten sein Handy raus und gibt in scharfem Ton Kommandos an seine Kumpels durch, die als fünfter, sechster und siebter Mann herhalten sollen, damit der arme Rabbi G. endlich mal einen Minjan zusammenkriegt.
augenringe Bis jetzt ist das Projekt »Minjan« aber noch jeden Morgen gescheitert. Denn mehr als drei bis vier Frühaufsteher finden sich nie ein. Bei mir hinterlässt die ständige Extrem-Frühaufsteherei langsam ihre Spuren: Ich habe tiefe, lilafarbene Augenringe wie ein Vampir, aus Mangel an Schlaf zittern meine Hände, und mein linkes Augenlid hört nicht mehr auf zu zucken.
Alains Kumpels, die er jeden Morgen aus dem Bett klingelt, grüßen uns inzwischen nicht mehr und wechseln die Straßenseite, wenn sie uns kommen sehen. Auch werden unsere E-Mails nicht mehr beantwortet, Telefonhörer nicht mehr abgehoben. Ich würde sagen, wir befinden uns gesundheitlich und gesellschaftlich auf dem Weg zum totalen Absturz.
Aber naja. Hauptsache Rabbi G. muss nicht mehr einsam vor sich hinschockeln und allein sein Morgengebet durchziehen. Der arme Kerl ist wirklich zu bedauern, seitdem ihn der Vorstand der versnobten Innenstadt-Synagoge »Ohel Mosche« aus Budgetgründen gefeuert hat.
alarm An einem kalten Aprilmorgen sind wir also wieder mal in der Anfahrt auf die Maimonides-Schule, auf einmal bemerken wir eine ungewöhnlich hohe Konzentration von Polizisten und Polizeiautos, und mit Walkie-Talkies herumstaksende, wichtig aussehende Security-Männer. Die gelbe Alarmsirene am Schultor heult, und wir werden per Megafon aufgefordert, wegen Bombenverdachts die Schule weiträumig zu umfahren.
Und was jetzt? Ziellos kurven wir in der Gegend herum, es herrscht tiefes Schweigen, einziges Geräusch im Auto ist Alains frustriertes Zähneknirschen, denn nun hat er seinen Minjan versäumt.
Er weiß genausogut wie ich, dass es zum nächsten Minjan, in der »Ohel-Mosche-Synagoge«, nur fünf Minuten mit dem Auto sind. Aber dieser Ort ist für meinen Mann tabu, seit Rabbi G. dort so unsanft vor die Tür gesetzt wurde. Alain hat sich geschworen, nie wieder einen Fuß in dieses Schlangennest mit seinen korrupten Vorstand-Gangstern zu setzen. Ich kann förmlich sehen, wie Alain innerlich mit sich ringt, auf seiner Stirn zeigen sich kleine Schweißtröpfchen. Schließlich reißt er unsanft den Lenker herum – und nimmt tatsächlich Kurs auf Ohel Mosche.
eclairs Hier betet man vornehm spät. Es ist bereits viertel nach acht, Alain ist der zehnte Mann und wird als solcher stürmisch begrüßt. Nach dem Gebet gibt es einen ausladenden Kiddusch, mit Catering vom Nobel-Serfaty. Kein Zweifel, seit Rabbi G. gefeuert ist, haben sie das Synagogen-Budget in die kulinarische Ecke umgeleitet. Es gibt frisch gebrühten Mokka, Eclairs und Petits Fours. Da wir zu Hause nie Zeit zum Frühstücken haben, hängt uns der Magen bis zu den Knien. Aufseufzend vergrabe ich meine Zähne in ein duftiges Baiser, Alain schaufelt Sesamcräcker in sich hinein, die Kinder triefen vor Karamellfüllung und Schokoladensauce.
Auf einmal geht die Tür auf – und im Türrahmen steht Rabi G. Alain hustet, ihm ist ein Eclair im Hals stecken geblieben. Ich versuche, unauffällig einen angebissenen Krapfen hinter meinem Rücken zu verstecken, die Marmeladenfüllung tropft mit einem leisem Plop Plop auf denTeppich.
Und was macht Rabbi G.? Er greift sich eine Cremeschnitte vom Buffet, klopft Alain auf die Schulter, und grinst: »Morgen wieder hier? Die Cuisine ist exzellent, wie ich sehe. Und du kannst endlich wieder ausschlafen!«