Die Finanzkrise der letzten Jahre geht von einer Welle zur anderen. Brach zunächst der US-Immobilienmarkt zusammen, weil immer weniger Schuldner ihre Hypotheken für ihre Eigenheime abzahlen konnten, hatte dies starke Auswirkungen auf die Stabilität der Banken. Diese hatten das Risiko ungenügend abgesicherter Hypothekenschulden durch Finanzmarktprodukte im Bankensektor weit verteilt.
Als die Abschreibungen auf diese Schulden auf breiter Front anwuchsen, erwies sich die Eigenkapitalquote vieler Banken dem nicht gewachsen. Die Folge waren milliardenschwere Stützungen durch die öffentliche Hand, um ein völliges Zusammenbrechen des Finanzsektors zu verhindern. So halten die Regierungen der westlichen Welt aktuell enorme Verbindlichkeiten, die ihre Kreditwürdigkeit selbst in Frage stellen und den Euro akut unter Druck bringen.
Ein Ausgangspunkt der heutigen komplexen Problematik war die leichtfertige Verschuldung privater Kreditnehmer zur Finanzierung eines Eigenheims seit der Bush-Administration. Hundertprozentige Beleihungen bei stetig ansteigenden Immobilienpreisen waren keine Seltenheit. Man kann also davon ausgehen, dass auch Menschen dem Reiz der eigenen vier Wände nicht widerstanden haben, deren Einkommen dafür eigentlich nicht hoch genug gewesen ist beziehungsweise die durch Arbeitslosigkeit schnell in eine Lage kommen würden, ihr Darlehen nicht mehr bedienen zu können.
Moral Die Halacha betrachtet die Rückzahlung von Schulden als moralische und religiöse Verpflichtung. Die Mehrzahl rabbinischer Autoritäten würde dies sogar als biblisches Gebot einstufen (Ketubbot 86a mit Bezug auf 3. Buch Moses 19,36), »richtige Waage, richtiges Gewicht, richtiges Scheffelmaß und richtiges Kannenmaß müsst ihr haben«. Dabei stellt sich natürlich die Frage der Erkenntnismöglichkeit und Einsichtsfähigkeit des einzelnen Schuldners.
Konnte man das Risiko der Überschuldung erkennen oder wurde dieses durch aggressive Darlehensangebote eher verschleiert? Diese Verkaufstaktik der Banken kann wiederum leicht als Verletzung eines anderen biblischen Gebots gesehen werden: »Du sollst deinem Nächsten nichts vorenthalten, nichts rauben« (3. Buch Moses 19,13). Wenn die Bank sehen kann, in welches Risiko sie den Kunden mit einem Darlehen treibt, müsste sie ihm den Kredit moralisch gesehen eindeutig verwehren. Wie die Finanzkrise gezeigt hat, wäre das auch gutes kaufmännisches Vorgehen gewesen.
Ob ein durch Arbeitslosigkeit und Hypothekenlast völlig verarmter Schuldner je von der Pflicht der Rückzahlung befreit wird, ist in der rabbinischen Literatur durchaus umstritten. Joseph Karo (1488– 1575) ist der Meinung, die Schuld bliebe erhalten (Schulchan Aruch, Choschen Mischpat 98,1), Meir Auerbach (1815– 1878) dagegen hält Verarmung für einen Grund zum Schuldenerlass. In unserer Zeit beschränkt Rabbiner Yaakov Yeshaya Blau in seinem Werk Pischei Choschen (Hilchot Halva’ah 2,29, Anmerkung 73) den Schuldenerlass auf Fälle, wo durch höhere Gewalt eine Rückzahlung unmöglich geworden ist.
Finanzmarkt Wie aber ist die Verbriefung all dieser wenig werthaltigen Schulden zu bewerten, die Banken auf dem Finanzmarkt platziert haben? Ist der Weiterverkauf solcher instabilen Forderungen nicht als »genevat da’at« zu betrachten, als Täuschung? Nach jüdischem Recht ist nämlich alles streng verboten, was andere zu falschen Schlüssen verleitet und eine akkurate Bewertung verhindert.
Es ist eine gängige Ansicht, dass das Verbot der Täuschung auf dem biblischen Verbot im 3. Buch Moses (19,11) »Du sollst nicht stehlen« gründet (Chullin 94a; Rabbiner Elieser von Metz, 12. Jh., Sefer Yereim, Kap. 224). Dort steht das Wort im Plural – lo tignowu –, während in den Zehn Geboten der Singular benutzt wird (2. Buch Moses 20,13: lo tignow). Darauf gründen mehrere Rabbinen die Anwendung des Verbotes auf eine große Bandbreite von Sachverhalten, auch Täuschung.
Dagegen halten andere Gelehrte »genevat da’at« für eine rabbinische Vorschrift (zum Beispiel Rabbiner Isaac ben Joseph aus Corbeil, Sefer Mitzvot Katan, Semak, 13. Jh., Sefer Moitzvot Katan 262). Insofern ist aber jedenfalls klar, dass auch die Weitergabe der Risiken aus den Hypothekendarlehen durch so besicherte Wertpapiere aus jüdischer Sicht fragwürdig ist.
Eine Verkettung höchst leichtsinniger Transaktionen, die sogar in Täuschungsabsicht darauf abzielten, unrechten Gewinn zu erzielen, hat also zu der heutigen Verschuldung der Staaten geführt, die systemrelevante Akteure des Finanzmarktes stützten, um keine weitere Kettenreaktion zum Schaden heutiger wie künftiger Generationen auszulösen.
Bleibt die Frage, wie die Schulden zu bewerten sind, die unsere Gesellschaft auf diese Weise aufgehäuft hat, um sie an kommende Generationen weiterzugeben. Sind unsere Nachkommen dazu verpflichtet, diese Schulden zu tragen, oder ist dies unmoralisch? Manche mögen auf den Propheten Jecheskel verweisen (18,20), bei dem es heißt: »Der Sohn soll nicht die Schuld des Vaters tragen, und der Vater soll nicht die Schuld des Sohnes tragen.«
forderungen Zwar entlässt Jecheskel damit den Einzelnen aus der unbedingten Bindung an die Gemeinschaft und scheint die Verpflichtung kommender Generationen für ererbte Schuld aufzuheben, doch sind damit keine Schulden im finanziellen Sinn gemeint. Auch der Verweis auf den Schuldenerlass durch das Jobeljahr (schmitta kesafim) führt nicht recht weiter, denn dieser Schuldenerlass bezieht sich einzig auf völlig ungesicherte Forderungen (Rambam 12. Jh., Hilchot Schmitta v’Yovel 9,11-14).
Außerdem haben die Rabbinen generell den biblischen Idealismus des geregelten Schuldenschnitts zu umgehen gewusst (siehe Hillels Prosbul). In der Mischna (Schewi’it 10,3) finden wir den Grund. Im Jahr vor dem Erlassjahr sank die allgemeine Kreditwürdigkeit derer, die sich Geld leihen mussten, deren Fähigkeit zur Rückzahlung aber in Zweifel stand. Die Tora hatte mit dem Schuldenschnitt eigentlich einen Schutz der Armen beabsichtigt, doch die Folge waren höhere Zinsen und ein geringerer Zugang zu Krediten.
Um denjenigen zu helfen, die Kapital leihen müssen, war es also unabdingbar, die Gültigkeit der Forderungen über das Erlassjahr hinaus zu erhalten und sogar vererbbar zu machen. Andernfalls wäre der Zugang zu Kapital gerade für die außer Reichweite geraten, die Kredite dringend benötigen. Die wirtschaftlichen Folgen wären unabsehbar gewesen.
So werden die kommenden Generationen also auf den Schulden sitzen bleiben, die wir heute aufhäufen, auch wenn uns dies moralisch fragwürdig erscheint. Vielleicht ist das der Unterschied zwischen dem Leben im Paradies und unserem realen Leben. Seit dem Sündenfall ist es mit der Unbeschwertheit vorbei, und wir stehen sukzessive in der Verantwortung.
Der Autor ist Rektor des Abraham Geiger Kollegs an der Universität Potsdam.