Robert Bowers soll sterben: Gegen den mutmaßlichen Synagogen-Attentäter von Pittsburgh wollen US-Staatsanwälte die Todesstrafe verhängen. Ein Termin für den Prozess steht noch nicht fest. Bereits kurz nach dem Angriff auf das Gotteshaus »Tree of Life« am 27. Oktober 2018, bei dem der 46-jährige Bowers elf Beter erschossen hatte, warb US-Präsident Donald Trump wieder einmal für eine häufigere Verhängung und Vollstreckung der Todesstrafe gegen Schwerverbrecher. »Sie sollten den ultimativen Preis bezahlen«, sagte er.
Ende Juli hatte das US-Justizministerium mitgeteilt, dass die USA auf Bundesebene erstmals nach mehr als 15 Jahren wieder die Todesstrafe vollstrecken wollten. Es sei bereits die Exekution von fünf Häftlingen angeordnet worden. Am 9. Dezember soll Daniel Lewis Lee, ein Rechtsradikaler, der drei Menschen umgebracht hat, in einem Gefängnis im Bundesstaat Indiana hingerichtet werden.
»Tree of Life« Doch bei vielen Juden in den USA stößt Trump mit diesem Kurs auf Ablehnung – auch nach dem schlimmsten antisemitischen Anschlag in der Geschichte der USA. Zwei der drei jüdischen Gemeinden, die in der Synagoge »Tree of Life« ihre Gottesdienste abhalten, haben mittlerweile an US-Justizminister William Barr appelliert, nicht die Todesstrafe für Robert Bowers zu fordern. Die dritte Gemeinde wollte sich zu dieser Frage nicht äußern.
Für uns Juden ist der mörderische Anschlag von Pittsburgh ein Anlass, um uns selbst genau zu befragen: Warum hat G’tt überhaupt eine materielle Welt mit allen Risiken des Missbrauchs des freien Willens geschaffen? Sollten wir als Juden für die Wiedereinführung der Todesstrafe eintreten? Hat das Strafrecht wirklich die beabsichtigte Wirkung? Ist die Abschaffung der Todesstrafe ein Zeichen der Progressivität? Und warum gibt es heute in den meisten modernen Staaten keine Todesstrafe mehr?
Sintflut Die erste biblische Todesstrafe für fast alle Menschen war die Sintflut. Die zweite himmlische Todesstrafe war ein Todesurteil für mehrere Städte in Kanaan (Israel). In der Tora wurde dem schlechten Verhalten der Menschen aus Sodom viel Aufmerksamkeit gewidmet. Awraham hielt eine flammende Fürsprache, um die Städte und ihre Umgebungen zu erhalten. Letztendlich gelang ihm das nicht: G’tt vernichtete Sodom und Gomorra.
Der Sanhedrin hatte seit dem Jahr 30 n.d.Z. keine Todesstrafe vollstreckt.
Dürfen wir über Leben oder Tod eines anderen entscheiden und ihm dann das Leben nehmen? Im ersten Buch Mose lesen wir: »Wer Menschenblut vergießt, dessen Blut soll auch durch Menschen vergossen werden. Denn G’tt hat den Menschen nach seinem Ebenbild geschaffen« (1. Buch Mose 9,6).
Laut dieser Torastelle scheint die Todesstrafe eine zwingende Notwendigkeit zu sein. Denn ein Mensch, der einem anderen kaltblütig das Leben nimmt, verliert demnach selbst das Recht weiterzuleben. Befürworter der Todesstrafe argumentieren, dass die Achtung vor dem menschlichen Leben mit sich bringe, dass der Mensch nicht ungestraft getötet werden darf.
Jedoch werden in der Tora nicht alle Fälle von Mord und Totschlag mit der Todesstrafe vergolten. Kain, David und Achab wurden bestraft, aber nicht mit der Todesstrafe. Seit dem Jahr 30 n.d.Z. wurde die Todesstrafe nicht mehr vollstreckt: Der Sanhedrin zu Jerusalem hatte diese Praxis bereits 40 Jahre vor der Zerstörung des Zweiten) Jerusalemer Tempels (im Jahr 70 nach der Zeitrechnung), also vor 1989 Jahren, beendet.
Talmud Im Talmud wird mit der Todesstrafe sehr zurückhaltend umgegangen. So wird das Gesetz des »widerspenstigen Sohnes« über vier Seiten im Talmud besprochen (Sanhedrin 68b bis 72a). Hierbei geht es um einen Sohn, der weder auf seinen Vater noch auf seine Mutter hört. Dieser Sohn solle, wenn er nach seiner Züchtigung immer noch nicht auf seine Eltern hört, zum Sanhedrin gebracht und hingerichtet werden.
Später aber wurde beschrieben, dass der Fall des »widerspenstigen Sohnes« nie eingetreten sei und auch nie eintreten werde. Dieses Gesetz wurde nur zu Studienzwecken, aber nicht für die Praxis erlassen. In Sanhedrin 51b wird das Studium der Todesstrafen mit dem Studium der Opfer verglichen, die auch nicht mehr üblich sind. In der Mischna Makkot (1,10) wird vermerkt, dass ein Sanhedrin, der einmal in sieben Jahren jemanden zum Tode verurteilt, als »Schlachtbank« betrachtet werde.
Rabbi Elasar ben Asarja meint, dass selbst einmal in 70 Jahren schon zu viel sei. Rabbi Tarfon und Rabbi Akiva schreiben, dass, wenn sie im Sanhedrin gesessen hätten, nie ein Todesurteil erfolgt wäre. Aber Rabbi Schimon ben Gamliel behauptet, dies hätte kontraproduktiv gewirkt: »Mit so einer Einstellung hätte es unter den Menschen in Israel viele Mörder gegeben.«
Für lebensgefährliche Kriminelle wurde die Todesstrafe auch bis ins Mittelalter gelegentlich noch ausgesprochen.
Für lebensgefährliche Kriminelle wurde die Todesstrafe jedoch auch bis ins Mittelalter gelegentlich noch ausgesprochen. Wo die jüdischen Gerichte mit diesen juristischen Befugnissen betraut waren, wie in Spanien unter der Herrschaft der Muslime, wurden manchmal Todesurteile vollstreckt, wenn bestimmte Individuen eine Bedrohung für die Gemeinschaft darstellten – mit dem Argument der Selbstverteidigung.
Oberrabbiner Als im Staat Israel die erste Angelegenheit wegen Mordes verhandelt wurde, telegrafierten beide Oberrabbiner an den Justizminister, er solle die Todesstrafe sofort abschaffen. Ein Todesurteil betrachteten sie in modernen Zeiten als Widerspruch zum jüdischen Gesetz.
Der Organisator des Massenmordes an den europäischen Juden, Adolf Eichmann, wurde dennoch wegen Genozids zum Tode verurteilt und hingerichtet. In solchen extremen Fällen erscheint ein Todesurteil als alternativlos. Auch heute noch wird weltweit sehr kontrovers über die Todesstrafe diskutiert – zum Beispiel über das Urteil gegen den irakischen Diktator Saddam Hussein.
Zu unseren anfänglich gestellten Fragen: Warum gibt es heute in den meisten modernen Staaten keine Todesstrafe mehr? Diese Frage erfordert eine tiefgründige, philosophische Antwort über den Unterschied zwischen unserem spirituellen Niveau jetzt und in der Vergangenheit.
Kraft Der Talmud vergleicht die Todesstrafe mit Opfern. Das ursprüngliche Judentum greift in die Materie ein. Das können wir heute nicht mehr tun. Nach der Zerstörung des Tempels (70 n.d.Z.) haben wir diese geistige Kraft verloren. Viele Mizwot (Gebote) können zurzeit nicht ausgeführt werden.
Der Unterschied zwischen dem Physischen und dem Spirituellen ist bekannt: In der materiellen Realität existiert das Konzept von Raum und Ort. In einer spirituellen Welt sind Raum und Ort unvorstellbar. Sich gegenseitig ausschließende Konzepte bleiben dort weit voneinander entfernt.
Nur im Fall von Adolf Eichmann erscheint ein Todesurteil alternativlos.
In der physischen Welt ist es möglich, zwei gegensätzliche Gefühle miteinander zu vereinigen; in einer geistigen Welt ist dies unmöglich. Eine materielle Welt ist nötig, um verschiedene und sogar widersprüchliche Dinge und Konzepte zu vereinen.
Spirituelle Einheiten können an physische Objekte gebunden werden, so wie sich eine menschliche Seele an einen physischen Körper binden kann. Widersprüchliche Konzepte können nur durch ein irdisches Objekt zusammengeführt werden.
Das klassische Beispiel für diese »Einheit in der Vielfalt« ist der Mensch selbst. Rein spirituell gesehen, sind Gut und Böse unvereinbare Gegensätze, die nie zusammenkommen können. Nur in einem physischen Körper können Gut und Böse koexistieren. Die Höhe der Risiken kreiert die größte Belohnung für die Personen, die das Gute wählen.
Der Einsatz – und leider auch der Missbrauch – des freien Willens gehört zum Wesen dieser Welt. Die ganze Welt ist nur für den freien Willen erschaffen. Sonst wären wir Roboter. Das wollte G’tt nicht.
Ohnmacht Hat das Strafrecht wirklich die beabsichtigte Wirkung? Die Erfahrung lehrt uns, dass es nicht so ist, denn es gab trotz Todesstrafe immer noch Mord und Totschlag und schlimme Verbrechen.
Ist die Abschaffung der Todesstrafe also ein Zeichen der Progressivität? Nein, sondern eigentlich eher ein Zeichen der Ohnmacht und Schwächung der biblischen jüdischen Identität. Dennoch sollten wir als Juden nicht für die Wiedereinführung der Todesstrafe eintreten – extreme Ausnahmen wie Eichmann ausgenommen.
Ich schließe mich Rabbiner Jonathan Perlman an, dessen Gemeinde »New Light Congregation« bei dem Anschlag auf die Synagoge »Tree of Life« in Pittsburgh drei Beter verloren hat. Er schrieb an US-Justizminister William Barr: »Unsere beiden religiösen Traditionen, Ihre katholische und meine jüdische, lehnen die Todesstrafe vehement ab.«
Er würde den Attentäter gerne lebenslang und ohne Begnadigung inhaftiert sehen, schrieb der Rabbi weiter: »Lasst ihn für immer damit leben. Ich bin hauptsächlich daran interessiert, dass dieser Verbrecher meiner Gemeinde keinen weiteren Schmerz zufügt.«
Der Autor ist Oberrabbiner der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf, Dajan beim Europäischen Beit Din und Mitglied der Orthodoxen Rabbinerkonferenz Deutschland (ORD).