Bo

Lass mein Volk ziehen!

Jüdische Emigranten aus der Sowjetunion bei ihrer Ankunft am Wiener Ostbahnhof (1973) Foto: picture alliance / brandstaetter images/Votava

Im Dezember vergangenen Jahres starb in Israel der russische Offizier Edward Kusnezow. Der Veteran des Zweiten Weltkriegs hatte im Juni 1970 an der »Operation Wedding« teilgenommen. Damals plante eine Gruppe junger Juden, ein Flugzeug aus Sankt Petersburg zu entführen und es zur Landung in Schweden zu zwingen. Die Teilnehmer der Operation waren sogenannte Refuseniks, denen die Auswanderung aus der Sowjetunion verweigert wurde. Bevor sie das Flugzeug besteigen konnten, verhaftete man sie. Einige wurden zum Tode, andere zu langjährigen Haftstrafen verurteilt.

Die harten Urteile lösten damals eine erneute Welle des weltweiten Kampfes für die Befreiung der sowjetischen Juden aus. Einer der zentralen Slogans war: »Lass mein Volk ziehen!« Der Kampf war überaus erfolgreich: Nicht nur wurden die Strafen der Teilnehmer der »Operation Wedding« gemildert, sondern die Sowjetunion öffnete später ihre Tore und erlaubte etwa 300.000 Juden die Auswanderung ins Ausland.

Tausende Jahre zuvor führte Mosche den ersten Kampf um »Lass mein Volk ziehen!«. Unser Wochenabschnitt Bo erzählt vom weiteren Verlauf und dem Ende des Kampfes zur Befreiung des Volkes Israel aus der Sklaverei in Ägypten. Nach zehn schweren Plagen, die Ägypten erlitt, stimmte der Pharao schließlich zu, das Volk Israel aus seinem Land ziehen zu lassen. Warum erst jetzt? Auf den ersten Blick, weil die letzte Plage, der Tod der Erstgeborenen, den Pharao persönlich traf und den Tod in sein eigenes Haus brachte. Das könnte die Erklärung sein, doch es gibt eine tiefere und umfassendere Deutung.

Kampf der Anführer: Mosche und Aharon auf der einen Seite und der Pharao auf der anderen

Der Kampf um die Befreiung des Volkes Israel aus Ägypten war vor allem ein Kampf der Anführer: Mosche und Aharon auf der einen Seite und der Pharao auf der anderen. Das Volk Israel war in die harte Arbeit vertieft. Ihre Reaktion auf die Nachricht von der Erlösung lautete: »Sie hörten aber nicht auf Mosche, aus Kleinmut und wegen der harten Arbeit.«

Nachdem der Pharao die Arbeit erschwert hatte, wandte sich das Volk mit Beschwerden ausgerechnet an Mosche und Aharon, denn ihre »Fantasien von Freiheit« hatten die Arbeit nur schwerer gemacht. Mosche und Aharon führten den ständigen Dialog mit dem Pharao und seinen Dienern. Sie forderten die Freilassung und vermittelten die Plagen über Ägypten. Doch wo war das Volk Israel? Es arbeitete weiterhin unter schwerer Last.

Das Volk Israel erhält mehrere Gebote – das erste Mal als Volk

Das zwölfte Kapitel des 2. Buches Mose stellt eine methodische Pause in der Erzählung über die Sklaverei in Ägypten dar. Für einen Moment hören wir auf, über die Sklaverei und die Plagen zu sprechen, und das Volk Israel erhält mehrere Gebote – das erste Mal als Volk.

Nach einer langen Zeit, in der das Volk Israel unsichtbar blieb, wird es plötzlich aktiv. Es ist nicht mehr passiv oder in die Sklavenarbeit vertieft, sondern nimmt aktiv an der Gestaltung teil. Zunächst erhält das Volk seinen eigenen Kalender, der mit dem Monat Nissan und Pessach beginnt. Es sind nicht die Ägypter, die den Kalender, die Feste und die Kultur bestimmen – das Volk Israel tut dies selbst.

Danach wird es zum Opfer verpflichtet. Nicht der Pharao entscheidet, ob das Volk Israel aus Ägypten in die Wüste ziehen und seinem Gott opfern darf – das Volk tut es, ohne den Pharao zu fragen. Und schließlich: die Markierung der Türpfosten mit Blut. Das Volk Israel versteckt sich nicht in seinen Häusern und fürchtet nicht, entdeckt zu werden – es bestreicht die Eingänge seiner Häuser mit Blut, in auffälligem Rot, das sagt: Hier sind wir. Wir haben keine Angst.

Hier sind wir. Wir haben keine Angst

Und tatsächlich, in derselben Nacht lässt der Pharao das Volk Israel ziehen. Nicht unbedingt die Plage der Erstgeborenen veränderte den Pharao. Diktatorische Herrscher können selbst das Wertvollste verlieren oder ihr eigenes Leben riskieren und setzen dennoch ihre fanatischen Ideen weiterhin durch – wie wir im vergangenen Jahr leider erfahren haben. Etwas anderes geschah mit dem Pharao in jener Nacht: Er sah, dass das Volk Israel von einer schwachen Gruppe von Sklaven zu einem geeinten Volk mit nationalem Selbstbewusstsein geworden war. Sie kannten ihre Kultur, führten ihre Rituale selbst aus und hatten keine Angst, sich zu zeigen.

Eines der Gebote, das diese stolze Haltung am meisten symbolisiert, ist das Gebot der Tefillin. Es wird am Rande der Geschichte vom Auszug aus Ägypten erwähnt und scheint zunächst nicht mit dem Verlauf der Ereignisse verbunden zu sein. Doch der Text macht den Zusammenhang deutlich: »Und das soll dir zum Zeichen an deiner Hand …, da Gott dich mit starker Hand aus Mizrajim hinausgeführt hat.«

Das heißt: Lege die Tefillin an deinen starken Arm. Und wenn du die Tefillin anlegst und sie an deinen Arm bindest, erinnere dich an »die starke Hand und den ausgestreckten Arm«, mit denen Gott das Volk Israel aus Ägypten herausführte. Denke nicht nur an die Sklaverei wie beim Maror, dem Bitterkraut, und nicht nur an die Eile des Auszugs wie bei den Mazzot, sondern an den stolzen Auszug des Volkes Israel aus Ägypten.

Vom Slogan zur Realität

Damit »Lass mein Volk ziehen!« von einem Slogan zur Realität wird, muss das Volk selbst Teil des Prozesses sein. Es kann kein elitärer Führungswettkampf bleiben, sondern muss ein Volkskampf werden. Daher fand der Wendepunkt im Kampf um die Befreiung des Volkes Israel in unserer Wochenlesung statt, wie oben beschrieben.

Und deshalb war der Kampf um die Befreiung der Juden in der ehemaligen Sowjetunion erfolgreich – weil er von den Massen getragen wurde: Einzelpersonen wie Edward Kusnezow, Anatoli Scharanski und Ida Nudel sowie viele Juden weltweit unterstützten sie durch Demonstrationen und indem sie Druck auf ihre Regierungen ausübten.

Das Volk Israel beweist immer wieder seine Stärke. Es muss nur aus der Geschichte lernen und sich daran erinnern, dass es ein Volk ist.

Der Autor ist Kantor der Israelitischen Kultusgemeinde Nürnberg.

inhalt
Der aktuelle Wochenabschnitt Paraschat Bo schildert die letzten Plagen, mit denen Gott die Ägypter heimsucht: Das sind zunächst Heuschrecken und Dunkelheit, dann kündigen Mosche und Aharon die Tötung aller ägyptischen Erstgeborenen an. Doch das Herz des Pharaos bleibt weiter hart. Die Tora schildert die Vorbereitungen für das Pessachfest und beschreibt dann die letzte Plage: Alle Erstgeborenen Ägyptens sterben, doch die Kinder Israels bleiben verschont. Nun endlich lässt der Pharao die Israeliten ziehen. Zum Abschluss schildert der Wochenabschnitt dann erneut die Vorschriften für Pessach und die Pflicht zur Erinnerung an den Auszug aus Ägypten.
2. Buch Mose 10,1 – 13,16

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