Wir sind fast am Ende der Tora. 40 Jahre sind die Israeliten durch die Wüste gezogen, Mosche resümiert in drei großen Reden noch einmal alle Höhe- und Tiefpunkte des langen, langen Weges aus der Sklaverei in die Freiheit.
Das Volk steht am Jordan und sieht auf der anderen Seite das ihm versprochene Land. Mosche weiß, dass er bald sterben wird. Soeben hat er den Priestern und Ältesten seines Volkes die Tora übergeben und Joschua zu seinem Nachfolger berufen. Joschua, nicht Mosche, wird die Israeliten in das Land führen.
Schon der Abschnitt des vergangenen Schabbats klang melancholisch. Gott und Mosche wissen, dass es nicht lange dauern wird, bis die Israeliten den Bund brechen werden, bis sie sich von dem einen Gott abwenden und wieder den alten heidnischen Götzendiensten verfallen werden. Die Befreiung vom Sklavenjoch, die Zeichen und Wunder Gottes gegenüber dem Pharao und in der Wüste, die Offenbarung am Berg Sinai und der Erhalt der Tora – all das hat nicht ausgereicht, um die Israeliten endgültig an ihren Gott zu binden.
desillusion Das Ende der Tora zeugt an dieser Stelle von großer Desillusion. Sie betrifft nicht nur die Grenzen des Menschen, sondern schlimmer noch: die Grenzen Gottes. Er ist eben nicht allmächtig. Er kann nicht verhindern, dass die Menschen immer wieder andere Wege gehen, mitunter Wege, die in den Abgrund führen.
Am Ende der Tora sagt Gott: »Darum schreibt euch das folgende Lied auf: Lehre es die Kinder Israels, lege es ihnen in den Mund, damit mir dies Lied ein Zeuge gegen die Kinder Israels sei! (...) So soll, wenn viele Leiden und Drangsale das Volk treffen werden, dies Lied nie aus dem Munde seiner Nachkommen schwinden« (5. Buch Mose 31, 19–21).
Aus allein diesem Lied, das Mosche seinem Volk vorträgt, besteht der Wochenabschnitt an diesem Schabbat.
Das Lied beginnt im Stile einer optimistischen Gottespreisung, wie wir sie aus vielen Psalmen kennen. »Merk auf, o Himmel, ich will reden! / Die Erde höre meines Mundes Wort!« (32, 1–2). Es geht zunächst weiter wie in einer Pastorale: »Wie Regen träufle meine Lehre. Es riesle gleich dem Tau mein Spruch. / Wie Regenschauer auf das Grüne, Wie Wolkengüsse auf das Gras! / Des Ewigen Name will ich künden« (2–3).
Doch schon bald, im fünften Vers, schlägt die Stimmung um. Über Gott heißt es noch: »ein Gott der Treue, ohne Fehl, gerade und gerecht« (4). Doch über die Israeliten steht geschrieben: »Sie sind nicht Seine Söhne mehr, verführt hat sie ihr eigener Fehl. / Ein dekadentes Geschlecht, der Tücke voll. / Wie? So wollt ihr’s dem Ewigen lohnen, / du töricht, unverständig Volk?!« (5–6).
Es folgen prophetische Beschreibungen der Götzenkulte, des Abfalls und daraus folgend der konsequenten Wege ins Verhängnis – in Naturkatastrophen, Hungersnöte, Kriege und Verwüstungen –, bis schließlich im Abgrund, fast schon zu spät, wieder Gott als der einzige Halt erkannt wird.
Was Gott in den vergangenen Kapiteln bereits in Form von Flüchen angedroht hatte, wird hier noch einmal, jedoch in kunstvollster Poesie, dargestellt. Aber warum all diese schrecklichen Visionen in Form eines Liedes? Und warum sollten sie vom Volk gesungen werden? Und überhaupt – warum ist die letzte Bestimmung Gottes ein Lied für sein Volk?
Kolumnen In der Torarolle ist das Lied durch seine ästhetische Textarchitektur – als zwei Kolumnen von halben »Ziegelreihen« (hebräischer Fachausdruck, wenn Worte wie »Ziegel« gesehen werden) – schnell zu finden.
Es sticht, ähnlich wie das Lied am Schilfmeer (2. Buch Mose 15, 1–19), allein schon optisch heraus. Die Textgestaltung vermittelt an diesen Stellen eine ganz eigene, faszinierend aussehende Sprachrhythmik.
Zu Beginn des sechsten Verses schwebt außerdem ein mysteriöser, viel größer geschriebener und für sich stehender Buchstabe: »Heh«. Über ihn haben die Rabbinen viel spekuliert und darin Mosches versteckte Signatur gesehen.
Das Heh ist aber auch der Buchstabe, der grammatikalisch in der hebräischen Sprache eine Frage einleitet. So richtet sich dieses große Heh wie ein Fragezeichen aus den Buchstabenreihen an die Leser: Wie werdet ihr euch wohl in der Zukunft verhalten?
Dass die düsteren Aussagen und ihr etwas optimistischerer Ausgang hier in der Form eines Liedes vermittelt werden, entspricht in jedem Fall einer tiefenpsychologischen Bewandtnis.
Stärker noch als ein kluger Text prägen uns oft Lieder – in Melodien vermittelte Botschaften und Zeremonien. Sie berühren die Seele mitunter viel nachhaltiger als die Vernunft. Sie vermögen seelische Saiten auch noch Jahrzehnte später wieder zum Klingen zu bringen. Möglicherweise ist der psychische Punkt, den sie berühren, ein stärkerer Garant, den Weg zur Tora zurückzufinden, als der Verstand.
kernaussagen Vor Kurzem haben wir Rosch Haschana und Jom Kippur begangen. Es gibt die sogenannten Drei-Tage-Juden, die nur dreimal im Jahr in der Synagoge erscheinen. Nicht wenige von ihnen kommen aus der Sehnsucht, wieder die alten unvergänglichen Melodien ihrer Kindheit zu hören: Hajom harat olam, Awinu Malkejnu, Kol Nidre … Offenbar reicht dies, um weiterhin gebunden zu bleiben. Auch diese Melodien enthalten in ihren Worten Kernaussagen des Judentums – tiefernste Aussagen, aber weniger als Sätze verstanden denn als Musik empfunden.
Es gibt Religionswissenschaftler, die heute in Bezug auf die Identifizierung mit dem Christentum der Ansicht sind, dass weniger die Predigten als die sakrale Musik die Menschen an die Kirche bindet. Eine Bach-Kantate bewirke mehr als intelligente Schriftauslegungen.
Vielleicht hat eine ähnliche Motivation dazu geführt, dass am Ende der Tora, bevor Mosche dem Volk den Segen gibt, zunächst noch auf dem Wege eines Liedes alle wichtigen Dinge gesagt werden. Es ist ein prophetischer Text – jedoch als Lied. Auf diese Weise steigern sich Gottes Worte am Ende der Tora in keinen gesprochenen Schlusspunkt, sondern in eine offene Melodie, die über ihre Worte hinausgehend trägt und das jüdische Volk zusammenhält.
Die Autorin ist Rabbinerin des Egalitären Minjans in Frankfurt am Main und Professorin für Jüdische Studien an der Universität Paderborn.
inhalt
Der Wochenabschnitt Ha’asinu gibt zu einem großen Teil das »Lied Mosches« wieder. Mosche trägt es dem Volk vor und weist darauf hin, wie wichtig es ist. Er fordert die Israeliten auf, sich an den Werdegang der Nation und an ihre Vorfahren zu erinnern, die den Bund mit G’tt geschlossen haben. Das Lied erzählt von der Macht G’ttes und wie sie sich in der Geschichte der Welt gezeigt hat. Es erinnert an das Gute, das der Ewige dem Volk Israel zuteilwerden ließ, aber auch an die Widerspenstigkeit der Israeliten und die Bestrafung dafür. G’tt spricht zu Mosche und fordert ihn auf, auf den Berg Nebo zu kommen. Von dort soll er auf das Land Israel schauen – betreten aber darf er es nicht.
5. Buch Mose 32, 1–52