Wajeschew

Kurs halten

Segelregatta bei Sturm und Regen Foto: travenian

Im Wochenabschnitt Wajeschew erteilt Jakow seinem Lieblingssohn Josef einen Auftrag: Er soll nach dem Wohlergehen seiner Brüder schauen, die draußen bei den Schafen sind, und auch nach dem Zustand der Schafe, und dann darüber berichten.

Dieser Auftrag veränderte viel mehr als nur das Leben von Jakow, Josef und das seiner Brüder – er veränderte die gesamte Geschichte des jüdischen Volkes.

Im 1. Buch Mose 37, 15−16 lesen wir: »Ein Mann traf ihn (Josef), als er im Feld umherirrte, und fragte ihn: ›Was suchst du?‹ (Ma tewakesch?) Josef antwortete: ›Es sind meine Brüder, die ich suche, bitte sag mir, wo sie weilen.‹«

Sklave Der Mann erklärte Josef, wie er zu seinen Brüdern gelangen konnte, und Josef beeilte sich, sie zu finden. Als die Brüder ihn von Weitem sahen, wollten sie ihn erst töten. Doch dann warfen sie ihn in eine Grube voller Schlangen und Skorpione, und letztlich verkauften sie ihn an Sklavenhändler.

Josef landete in Ägypten, doch stieg er nach einiger Zeit zum zweiten Mann im Staate auf, was Jahre später zum Umzug von Jakows Familie nach Ägypten und schließlich zur Versklavung des jüdischen Volkes führte. Der Mann, der Josef den Weg zu seinen Brüdern zeigte, führte im Nachhinein zu der gesamten Entwicklung der Geschichte.

Raw Menachem Mendel von Kotzk, der Kotzker Rebbe (1787–1859), sagt, diese Verse trügen eine viel tiefere Bedeutung in sich. Denn warum sonst sollte uns wohl die Tora eine so unbedeutende Tatsache wie über den Mann erzählen, der Josef den Weg zeigte? Sicherlich möchte uns die Tora damit auf irgendetwas hinweisen.

Die Passage, über die wir hier nachdenken, beginnt mit dem Satz »Ein Mann traf ihn«. Der Midrasch Tanchuma sagt, der Mann, der Josef traf, sei kein anderer gewesen als der Engel Gawriel, der auch im Buch Daniel (9,21) als »der Mann« bezeichnet wird.

Weiter heißt es im Vers: »Und er (Josef) irrte im Feld umher.« Dies, sagt der Kotzker Rebbe, sei eine Metapher für den Menschen und sein Leben in dieser Welt. Oft tun Menschen nichts anderes in ihrem Leben als herumzuirren und nach irgendetwas zu suchen. Denn sehr viele von uns haben offensichtlich den richtigen Weg verloren und wissen nicht, in welche Richtung sie gehen sollen.

SCHLÜSSEL Zum Schluss sagt der Vers: »Und der Mann fragte ihn: ›Was suchst du?‹« Der Engel Gawriel sagte also zu Josef: »Hör zu, du bist dabei, eine der größten Odysseen der menschlichen Geschichte zu beginnen. Du wirst in eine Grube geworfen. Danach wirst du nach Ägypten gebracht. Du wirst als einfacher Sklave verkauft und falsch beschuldigt werden. Du wirst eine längere Zeit im Gefängnis verbringen, doch dann wirst du befreit und Vizekönig von Ägypten werden. In deinem Leben wirst du die höchsten Höhen und die tiefsten Tiefen erleben. Doch was ist unter solchen Umständen der Schlüssel zum Erfolg, wie wirst du so eine turbulente Zeit überleben und meistern können? Du musst dich an eines erinnern: ›Ma tewakesch?‹ Du musst dich immer darauf konzentrieren, was du in deinem Leben erreichen willst – was suchst du?«

Wenn sich ein Mensch auf das konzentriert, was er will, und sein Ziel ständig vor Augen hat, dann ist es irrelevant, was ihm in seinem Leben geschieht. Ob es die schlimmsten Probleme sind oder der größte Erfolg ist – ihn wird nichts vom richtigen Weg und seinem Ziel abbringen können.
Josef Hazaddik, der Gerechte, verlor trotz allem, was ihm geschah, sein Ziel nie aus den Augen. Er hat sich nie von anderen korrumpieren und verführen lassen.

VERSUCHUNG Wenn Menschen schreckliche Leiden durchleben und sich fragen: »Weshalb geschieht mir das?«, so ist die Versuchung sehr groß, aufzugeben. Der natürliche Drang wäre unter diesen Umständen, das Handtuch zu werfen und unsere Religion zu verlassen. Andererseits vergessen Menschen, wenn sie außerordentlich großen Erfolg haben, oft, woher sie gekommen sind. »Josef«, sagte der Engel, »ich sage dir zwei Worte. Und du musst dich immer an diese Worte erinnern: ›Ma tewakesch?‹ Behalte stets im Blick, wonach du im Leben suchst. Wenn du dich an dieses Ziel hältst, so wird dich nichts davon abbringen.«

Manchmal begegnen uns Menschen, die sehr erfolgreich sind. Wir fragen uns, was sie so erfolgreich gemacht hat. Weshalb sind manche so erfolgreich und andere nicht? Oft sagen wir, der Schlüssel zu ihrem Erfolg seien Talent, Hirn, Glück oder eine Kombination aus allem.

Doch der Kotzker Rebbe lehrt uns, dass die wichtigste Voraussetzung für Erfolg im Leben die Zielstrebigkeit ist, also immer das Ziel vor Augen zu behalten. Wenn ein Mensch ein Ziel hat, sich an dieses Ziel hält und es nie aus den Augen verliert, so wird er fast immer Erfolg haben. Und wenn ein Mensch weiß, was er will, sich dafür einsetzt und sein Ziel immer im Blick hat, kann er die Prüfungen und Schwierigkeiten eines Josefs erleben und wird trotzdem nie untergehen.

Dies ist die Botschaft, die der Engel Gawriel Josef gab. Wir alle wandern auf dieser Welt umher. Wir alle erleben bessere und schlechtere Zeiten in unserem Leben. Wir wissen nicht, wohin wir uns wenden, was wir tun müssen oder welchen Weg wir einschlagen sollen. Die Lösung für diese Unsicherheit ist, sich auf das »Ma tewakesch« zu konzentrieren – nämlich darauf, was wir im Leben erreichen wollen, und niemals den Kurs zu verlieren.

Was man noch aus diesem Kommentar lernen kann, ist, dass auch uns im Leben oft »Engel Gawriels« geschickt werden, die uns auf irgendetwas in unserem Leben hinweisen sollen.

Josef hat seinen Engel erkannt und war sensibel genug, dessen Botschaft wahrzunehmen. Aber auch wir sollen stets auf der Hut sein, um unsere Engel und deren Botschaften nicht zu verpassen.

Mögen wir alle unsere Aufgabe in dieser Welt finden und niemals unseren Kurs verlieren!

Der Autor ist Gemeinderabbiner der Synagogengemeinde Konstanz und Mitglied der Orthodoxen Rabbiner­konferenz Deutschland (ORD).


inhalt
Der Wochenabschnitt Wajeschew erzählt, wie Josef – zum Ärger seiner Brüder – von seinem Vater Jakow bevorzugt wird. Zudem hat Josef Träume, in denen sich die Brüder vor ihm verneigen. Eines Tages schickt Jakow Josef zu den Brüdern hinaus auf die Weide. Die Brüder verkaufen ihn in die Sklaverei nach Ägypten und erzählen dem Vater, ein wildes Tier habe Josef gerissen. Jakow glaubt ihnen. In der Sklaverei steigt Josef zum Hausverwalter auf. Doch nachdem ihn die Frau seines Herrn Potifar der Vergewaltigung beschuldigt hat, wird Josef ins Gefängnis geworfen. Dort lernt er den königlichen Obermundschenk sowie den Oberbackmeister des Pharaos kennen und deutet ihre Träume. Die Geschichte von Tamar unterbricht die Josefsgeschichte wie ein Zwischenspiel.
1. Buch Mose 37,1 – 40,23

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