Vor Kurzem hat mir jemand ein Video von ukrainisch-stämmigen Israelis gezeigt, die sich freiwillig dazu entschlossen hatten, das Staatsgebiet der Ukraine zu verteidigen, und in einem Wohnheim der jüdischen Gemeinde von Dnipro beherbergt waren. Der Betreffende sagte dazu: »Wie können diese ›Juden‹ auf der Seite der Nazis kämpfen?«
Ich habe nur geantwortet, die Tatsache, dass die jungen Männer ihr neues Zuhause (also Israel) verließen, um für die Ukraine in den Krieg zu ziehen, und dabei von der jüdischen Gemeinde unterstützt würden, sollte doch zeigen, dass die Behauptungen über eine »Naziregierung« in der Ukraine nicht zutreffend sind. Mein Appell, dass man sich die Quellen genau aussuchen sollte, aus denen man sich über die Geschehnisse in der Welt informiert, fruchtete leider nichts. Im Gegenteil, meine Antwort stieß auf großes Unverständnis, und jeder blieb bei seiner Meinung.
Eines aber habe ich mich gefragt: Darf ein Jude aus halachischer Sicht überhaupt in der nichtjüdischen Armee des Landes, in dem er Staatsbürger ist, dienen oder für die Freiheit eines anderen Landes kämpfen und dabei sein Leben gefährden? Oder ist es vielleicht sogar eine Mizwa?
WELTKRIEGE Im 20. Jahrhundert nahmen Diasporajuden bekanntlich an vielen der großen Kriege teil, die die Weltgeschichte prägten. So kämpften beispielsweise um die 500.000 amerikanische Juden im Zweiten Weltkrieg. Vielen ist die jüdische Brigade innerhalb der britischen Armee ein Begriff. Doch auch außerhalb der Brigade kämpften viele Juden gemeinsam mit der britischen Armee gegen die Nazis. Im Ersten Weltkrieg wiederum kämpften Juden auf beiden Seiten des Konflikts, etwa 100.000 deutsche Juden für ihr Land und geschätzt 500.000 auf russischer Seite.
In vielerlei Hinsicht symbolisiert die Beteiligung von Juden an den Kriegen des 20. Jahrhunderts die Integration in ihre jeweiligen Länder. Viele identifizierten sich hundertprozentig mit ihrem Heimatland. Für andere war es ein Weg, endlich akzeptiert zu werden, während eine weitere Gruppe für eine Idee kämpfte.
Doch schon im Mittelalter nahmen Juden an Kriegen teil, so wie etwa innerhalb Spaniens. Der berühmte Schmuel Hanagid zum Beispiel führte Anfang des 11. Jahrhunderts eine Armee in Granada an und wurde als Kriegsheld, aber auch als Gelehrter sowohl innerhalb der jüdischen Gemeinde als auch in der nichtjüdischen Gesellschaft gefeiert.
Im Zweiten Weltkrieg kämpften Hunderttausende Juden in der US-Armee gegen die Nazis.
Da zu dieser Zeit die Integration der aschkenasischen Juden in die Mehrheitsgesellschaft nicht so weit fortgeschritten war wie die der sefardischen Juden in Spanien, schienen aschkenasische Gelehrte von einem Eintritt in eine nichtjüdische Armee deutlich weniger begeistert zu sein. Einer der Tosafisten entschied, wenn auch nur in einem Satz, dass es Juden verboten sei, in nichtjüdischen Armeen zu dienen.
Doch oft schlossen sich auch aschkenasische Juden mit ihren Nachbarn zusammen, wenn sie von benachbarten Plünderern oder Armeen angegriffen wurden, einschließlich der Fälle, in denen die Entweihung des Schabbats angeordnet wurde. Wie etwa, als die Kosaken von Bogdan Chmelnitzki polnische Städte plünderten und schreckliche Pogrome veranstalteten. Nicht selten wurden die jüdischen Helfer von der nichtjüdischen Bevölkerung verraten und schutzlos an die Kosaken ausgeliefert.
Dennoch scheint es, dass die jüdische Kriegsführung eher sporadisch war. Daher entschied im 16. Jahrhundert Rabbiner Yosef Karo, dass es nicht nötig sei, Gesetze zur Kriegsführung in seinen praktischen Kodex des jüdischen Rechts (Schulchan Aruch) aufzunehmen, der ausschließlich zeitgenössische Rechtsfragen behandelte.
EMANZIPATION Die Zeit der Emanzipation rückte die Frage der jüdischen Wehrpflicht wieder in den Vordergrund. Beginnend in Österreich im Jahr 1788 und über ganz Europa verbreitet, forderten viele Länder, dass Juden in die Armee eintreten sollten. Tatsächlich verlangte Napoleon von dem berühmten »Sanhedrin«, der von ihm 1806 zusammengerufen worden war, dass die Synode unmissverständlich erklären sollte, Juden seien verpflichtet, Frankreich zu schützen.
Je nach Land und Situation gab es aber auch Versuche von Juden, der Einberufung in die Armee zu entgehen. Viele befürchteten, dass das Militärleben sie nicht nur körperlich, sondern auch geistig gefährden würde, da sie dort jüdische Rituale nicht einhalten konnten. Auch der Antisemitismus innerhalb der Streittruppen machte vielen Angst. Doch im Großen und Ganzen verlangten die Regierungen Europas, dass Juden ihren Wehrdienst ableisteten, und diese taten das auch.
Wichtige Persönlichkeiten wie Rabbiner Yisrael Meir Hakohen (Chofetz Chaim) und Rabbiner David Zwi Hoffmann (Rabbinerseminar zu Berlin) argumentierten, dass Juden dienen müssten, insbesondere, um Chilul Haschem (Entweihung des Namen G’ttes) zu vermeiden, der erfolgen würde, wenn »die Feinde des jüdischen Volkes« argumentierten, dass Juden nicht den Gesetzen des Landes gehorchen würden. Chofetz Chaim schrieb sogar einen Leitfaden für jüdische Soldaten (»Machane Israel«), um sie zu unterrichten, wie man Verstöße gegen das jüdische Gesetz minimiert.
Die Rabbiner Chofetz Chaim und David Zwi Hoffmann plädierten für Wehrdienst von Juden.
Gezwungen, den Anweisungen seiner nichtjüdischen Vorgesetzten zu folgen, wird in diesem Werk ein Jude, der viele Mizwot nicht einhalten kann, dennoch ermutigt, so viel wie möglich zu tun und sich immer wieder um die Einhaltung der Toragebote zu bemühen. Der Chofetz Chaim ermutigt und drängt den Soldaten, egal wie schwierig seine Situation ist, auf G’tt zu vertrauen. In einer Predigt zeigt er, dass eine Person, die einer anderen Person ein Geschenk gibt, um es für sie aufzubewahren, ihre Gabe zurücknehmen kann, wenn der Empfänger das Geschenk missbraucht.
praktiken Nicht so beim Allmächtigen, denn selbst wenn ein Mensch das kostbare Geschenk des Lebens missbraucht, möchte G’tt es nicht zurücknehmen. Denkt immer daran, schrieb der Chofetz Chaim, dass ihr Kinder G’ttes seid. Außerdem rät er einem Soldaten, nicht nach »Chumrot« (strengen Auslegungen des jüdischen Gesetzes) zu suchen. Andererseits fordert er jüdische Soldaten auf, sich keine Sorgen zu machen, wenn sich Nichtjuden über jüdische Praktiken lustig machen, sondern weiterhin die Tora zu studieren, wann immer es möglich ist.
Chofetz Chaim erinnert die Soldaten daran, dass jede Mizwa wichtig ist, auch wenn Jezer Hara (der böse Trieb) ständig versuchen wird, die Befolgung der Gebote zu behindern. Er fordert jüdische Soldaten außerdem auf, bereit zu sein, beträchtliche Summen auszugeben, um so oft wie möglich nach Hause zurückkehren zu können. Wer feststellt, dass seine Uniform Schatnes (ein verbotenes Mischgewebe aus Wolle und Leinen) enthält, muss alles tun, um dies so schnell wie möglich zu korrigieren.
Viele Rabbiner betrachteten die Einberufung ins Militär als bedauerliche Situation, die nach Möglichkeit vermieden werden sollte. Dementsprechend gingen in Zeiten, in denen die Einstellung eines Ersatzes akzeptabel war, einige Gelehrte wie Rabbiner Meir Eisenstadt so weit zu argumentieren, dies sei eine Mizwa. Andere schlugen vor, Ausnahmeregelungen in Anspruch zu nehmen oder Regierungsposten anzunehmen, die einen selbst nicht gefährden, selbst wenn diese Jobs eine Verletzung des Schabbats erforderten.
PATRIOTISMUS Ganz anders sahen dies jedoch die Rabbiner Samson Raphael Hirsch (19. Jahrhundert, Deutschland) und Mosche Schmuel Glasner (gestorben 1923, Ungarn). Ersterer schrieb begeistert von der Verpflichtung, »auch das Leben selbst zu opfern, wenn das Vaterland seine Söhne zu seiner Verteidigung ruft«. Letzterer verurteilte die Wehrdienstverweigerung und erklärte, Juden müssten den Gesetzen des Staates treu folgen, sei es mit ihrem Geld oder Blut.
Solche patriotischen Gefühle waren jedoch in rabbinischen Schriften zumindest bis zum Zweiten Weltkrieg die Ausnahme von der Regel. Damals argumentierten Persönlichkeiten wie Rabbiner Yosef Henkin, dass es für amerikanische Juden schon vor der Einberufung eine Mizwa sei, sich freiwillig für den Kampf gegen die Nazis zu melden.
Eines der größten Probleme, welches das europäische Judentum des 19. und 20. Jahrhunderts plagte, war die Forderung der Regierungen an die offiziellen kommunalen Körperschaften, Soldatenquoten zu erfüllen.
Im zaristischen Russland war der Wehrdienst brutal und auch bei jüdischen Rekruten unpopulär.
Gelehrte wie Rabbiner Schmuel Landau und Rabbiner Mosche Sofer bestanden darauf, dass die Auswahl durch ein Lotteriesystem erfolgen sollte, das weder die Frommen noch die Reichen begünstigen würde. Beide Rabbiner erlaubten den Menschen, freiwillige »Ersatzpersonen« einzustellen oder für Einzelpersonen Beurlaubungen oder Befreiungen zu erhalten, bevor sie ausgewählt wurden. Doch sobald die Ersatzpersonen eingezogen waren, behaupteten sie, dass die Gemeinde nicht gewaltsam jemand anderen an ihrer Stelle übergeben dürfe.
»KANTONISTEN« Solche Ansichten wurden jedoch nicht immer umgesetzt, insbesondere, wenn es um das russische Programm des 19. Jahrhunderts zur Einberufung von »Kantonisten« zum langfristigen Militärdienst ging. Zwischen 1827 und 1855 wurden etwa 70.000 Juden (darunter mehr als 40.000 Kinder) zusammen mit Hunderttausenden nichtjüdischen Soldaten eingezogen und in Militärstädte oder Lager verschleppt. Solche brutalen Gesetze machten den Wehrdienst bei vielen Juden sehr unbeliebt.
Im Großen und Ganzen kann man erkennen, dass man sehr unterschiedliche rabbinische Aussagen über den Wehrdienst der Juden in einer nichtjüdischen Armee finden kann. Während einige dazu ermutigten, sich davon möglichst zu befreien, werteten andere ihn als eine Notwendigkeit, wobei es für die anderen eine nationale Pflicht und gar einer Mizwa war. Mit Sicherheit hängen diese Aussagen mit der allgemeinen gesellschaftlich-sozialen Lage der Juden sowie der Einstellung der nichtjüdischen Bevölkerung gegenüber den Juden zusammen.
Aus diesem Blickwinkel heraus kann man mit Sicherheit sagen, dass es für Juden keineswegs verboten ist, in einer nichtjüdischen Armee zu dienen. Und es scheint geradezu eine Mizwa in einem Land wie der Ukraine, in dem 400.000 Juden leben und gut behandelt werden, insbesondere das Leben der eigenen Familie und der Freunde zu verteidigen.
Dieser Artikel gibt persönliche Überlegungen wieder und ist kein Psak, also keine halachische Entscheidung. Mögen Fragen wie diese schon bald wieder der Vergangenheit angehören und nur auf theoretischer Grundlage diskutiert werden. Denn wir dürfen niemals vergessen, dass jeder Krieg eine schreckliche Tragödie ist und dass es unsere Pflicht ist, den Betroffenen in jeder Hinsicht, sei es mit Spenden oder Gebeten, zu helfen.
Der Autor ist Rabbiner der Synagogengemeinde Konstanz und Mitglied der Orthodoxen Rabbinerkonferenz Deutschland (ORD).