Mit Beginn des 5. Buchs Mose entsteht langsam die Szenerie für die Wiederinbesitznahme des versprochenen Landes. Nun kommt es zur unabwendbaren Konfrontation mit den anderen Völkern, die den Kindern Israel nicht wohlgesinnt sind.
An dieser Stelle müssen wir uns Themen stellen, die heute kontrovers diskutiert werden. Es wird politisch, und vielleicht gerade deshalb sollte man sich auch diesen Aspekten des Wochenabschnitts stellen. Es geht um Fragen von Krieg und Frieden. Die Ankunft an den Grenzen des Landes führt nicht zu einem gedeckten Tisch für die Kinder Israels. Zunächst muss auch erst das Gebiet fremder Völker durchquert werden.
In diesem Zusammenhang ergeht an Mosche ein eindeutiger Auftrag – G’tt sagt: »Macht euch auf, zieht hin und setzt über den Fluss Arnon. Siehe, ich gebe in deine Hand Sichon, den Emori, den König von Cheschbon, und sein Land. Nimm es in Besitz und führe Krieg gegen ihn« (2,24).
Kopfzerbrechen Der Auftrag ist klar – und kann uns heute in seiner Eindeutigkeit Kopfzerbrechen bereiten. Könnte das nicht gegen das Judentum ins Feld geführt werden? »Nimm das Land in Besitz und führe Krieg gegen ihn« – ist das eine Art Aufforderung zum heiligen Krieg? Immerhin sagt nicht Mosche dies, sondern G’tt.
Und was tut Mosche? Er kann dem vertrauen, was ihm direkt im Anschluss daran gesagt wird: »An diesem Tag werde ich anfangen, Schrecken und Furcht vor dir über die Völker unter dem ganzen Himmel zu verbreiten. Sobald sie deinen Ruf hören, werden sie beben und zittern vor dir« (2,25).
Mosche tut jedoch etwas anderes: Er stellt kein Heer von wehrfähigen Männern zusammen und zieht los. Im Gegenteil! Er schickt Sichon, dem König von Cheschbon, Boten, die Frieden anbieten und eine Art Friedensvertrag unterbreiten.
»Diwrej Schalom – Worte des Friedens« heißt es im Text (2,26): »Ich möchte durch dein Land ziehen. Immer auf der Straße will ich gehen, nicht von ihr abweichen nach rechts oder links. Speise sollst du mir für Geld verkaufen, dass ich esse; und Wasser sollst du mir für Geld geben, dass ich trinke. Nur mit meinen Füßen will ich durchziehen« (2,27). Das ist doch nicht das, was G’tt von Mosche verlangte. Er soll Krieg führen, doch er strebt Frieden an.
Auftrag Mosche wünscht lieber Frieden als Krieg – und handelt entsprechend. Erfüllt er damit seinen Auftrag? Dieser scheinbare Widerspruch ist schon den großen Kommentatoren aufgefallen. Raschi (1040–1105) schreibt, Mosche handele, wie G’tt es bereits zuvor gezeigt habe: »Obwohl mir nicht geboten wurde, dem Sichon Frieden anzubieten, nahm ich mir dennoch ein Beispiel an der Gesetzgebung in der Wüste. G’tt bot die Tora zuerst Esaw und Jischmael an, und obwohl er wusste, dass sie sie nicht annehmen würden, ließ er ihnen dessen ungeachtet sein Wohlwollen kundtun. So habe ich dem Sichon Frieden angeboten.«
Raschi führt sogar noch ein weiteres Beispiel an: »Ich habe Friedfertigkeit von dir, du Urheber des Weltalls, erlernt. Du hättest mit einem einzigen Blitz ganz Ägypten vernichten können, aber du sandtest mich aus der Wüste zu Pharao hin, damit ich ihm in aller Ergebenheit mitteilte, er möge das Volk ziehen lassen.« Nach Raschis Interpretation nimmt sich Mosche ein »Beispiel« an G’tt und strebt dementsprechend nach Frieden.
Nachmanides, der Ramban (1194–1270), leitet daraus sogar eine Mizwa ab: das Gebot, nach Frieden zu streben. Einen anderen Teil des 5. Buchs Mose (20,10) kommentiert er: »Die Tora sagt: ›Jedoch von den Städten dieser Völker, die der Ewige, dein G’tt, dir als Erbteil gibt, sollst du nichts leben lassen, was Atem hat‹ (20,16). Das legt uns nahe, es sei nicht erlaubt, einen Friedensvertrag zu schließen mit den Völkern, die das Land besiedelt haben. Nichtsdestotrotz würde Mosche diese Vorschrift niemals übertreten haben. Und die Tatsache, dass er eine Botschaft des Friedens entsandte, bedeutet, dass es eine Mizwa ist, mit den Völkern ein friedliches Einvernehmen anzustreben.«
Weiter argumentiert Ramban: Ein Midrasch berichtet davon, dass Jehoschua drei Briefe an die Völker des Landes geschrieben habe, bevor er es betrat. Dies beweise, dass es eine Mizwa sei, um Frieden zu verhandeln – sogar mit den Nationen, von denen die Tora ausdrücklich sagt, sie sollten bekämpft werden.
Der Ramban verweist auf Vers 20,10, in dem es heißt: »Wenn du dich einer Stadt näherst, um sie zu bekriegen, so sollst du ihr Frieden anbieten.« Dem würde Mosche hier Folge leisten: Er nimmt also den Auftrag nicht unmittelbar wörtlich, sondern verbindet ihn mit anderen Vorschriften. Der Ramban schreibt weiter, es sei in einem Krieg auf jeden Fall geboten, zunächst ein Friedensangebot auszusprechen. Würde dieses ausgeschlagen werden, sei es eine Mizwa, gegen die Stadt vorzugehen.
Widerspruch Lassen wir einen weiteren Kommentator zu Wort kommen. Rabbiner Naftali Zvi Jehuda Berlin (1816–1893), der Netziw, sieht zunächst gar keinen Widerspruch zwischen G’ttes Auftrag und Mosches Handeln. In seinem Kommentar HaEmek Dawar (»Die Tiefe des Wortes«), schreibt er, dass Mosche nicht gegen den Auftrag verstoßen habe. Denn das Wort »hitgar« aus dem Satzteil »wehitgar bo milchama – und führe Krieg gegen ihn« deutet nicht den direkten Krieg an, sondern bedeutet eine Herausforderung, die zu einem Krieg führen könnte. Tatsächlich sei es aber besser gewesen, wenn Sichon freies Geleit garantiert hätte. Aber der Netziw schreibt auch, dass es nicht darum ging, Krieg zu führen, sondern friedliches Einvernehmen zu erhalten. Erst dann sollte es zum Äußersten kommen.
Hier treffen zwei Gebote aufeinander: das Gebot, das Land wieder zu besiedeln, und das Gebot, Frieden zu wollen, auch wenn eine militärische Lösung vielleicht schneller und erfolgversprechender wäre, denn G’tt sagt ja: »Schrecken und Furcht vor dir werde ich über die Völker unter dem ganzen Himmel verbreiten.« Wir sehen, das Ziel des Krieges ist in jüdischer Interpretation nicht der Sieg, sondern der Frieden oder eine Wiederherstellung des Friedens und das Abwenden von Schaden.
Schaden nimmt nämlich auch derjenige, der in der Auseinandersetzung gewinnt. Das haben schon die Weisen verstanden, aber auch neuzeitliche Lenker des Staates Israel: Als Premierministerin Golda Meir (1898–1978) gefragt wurde, ob sie Ägypten jemals dafür vergeben könne, dass israelische Soldaten getötet wurden, antwortete sie, es sei für sie schwieriger, Ägypten dafür zu vergeben, dass Israel gezwungen gewesen sei, ägyptische Soldaten zu töten.
Der Autor ist Mitglied der Jüdischen Gemeinde Gelsenkirchen.
Inhalt
Mit dem Wochenabschnitt Dewarim beginnt das fünfte Buch der Tora. Er erzählt vom 40. Jahr, in dem Mosche am Ersten des elften Monats zu den Kindern Israels spricht. Sie stehen kurz vor der Überquerung des Jordans, und Mosche blickt auf die Reise zurück. Er erinnert an die schlechten Nachrichten der Spione und sagt, dass Jehoschua an seine Stelle treten werde. Dann erinnert Mosche an die 40-jährige Wanderung und die Befreiung der ersten Generation aus Ägypten. Seiner Meinung nach gehört das, was die Eltern erlebt haben, zum Schicksal ihrer Kinder. Wozu sich die Vorfahren am Sinai verpflichtet haben, ist auch für die Nachkommen bindend. Es wird bestimmt, mit welchen Völkern sich die Israeliten auseinandersetzen dürfen und mit welchen nicht. Mosches Bitte, das Land Israel doch noch betreten zu dürfen, lehnt G’tt ab.
5. Buch Mose 1,1 – 3,22