Eine riesige Halle voller Handwerker und Künstler – intensiv arbeiten sie am Bau des Mischkans, der Stiftshütte. Erfahrene Schreiner messen das Material für die Bundeslade genau aus, geschickte Goldschmiede polieren die Edelsteine des Brustschilds (Choschen), und talentierte Frauen weben mit großer Präzision den Vorhang (Parochet) aus blauem und purpurnem Stoff. Im Hintergrund werden wertvolle Rohstoffe sortiert – Gewürze für den Räucheraltar, reines Olivenöl für die Menora und vieles mehr. Die Betriebsamkeit ist groß, die Motivation enorm und die Begeisterung scheint grenzenlos.
Diese Szene aus unserem Wochenabschnitt ist einer der bewegendsten Momente in der Geschichte des jungen Volkes Israel, das gerade erst Ägypten verlassen hat. Die Teilung des Roten Meeres war das große Wunder und die Übergabe der Tora ein erhabener Moment – aber dieses Ereignis, bei dem das ganze Volk aktiv am Bau der Stiftshütte beteiligt war, sei es durch Spenden oder handwerkliche Arbeit, ist etwas anderes. Das Volk Israel zeigt auf proaktive Weise, dass es als eine Einheit handeln kann. Es folgt nicht nur dem großen Mosche oder sagt zu Gott: »Wir werden tun und hören«, sondern es initiiert selbst und setzt auch um.
Dieses Ereignis folgt auf eine Begebenheit, die gewissermaßen das Gegenteil darstellt – der Tanz ums Goldene Kalb. Erst in der vorherigen Parascha, Ki Tissa, haben wir vom Niedergang des Volkes gelesen, von seiner Abkehr von dem Weg, den es beschritten hatte, und davon, dass es in gewisser Weise Mosche und Gott verlassen hat.
Höhepunkt war der Dialog zwischen Gott und Mosche
In diesen Momenten schien es, als wäre alles verloren, als wäre das gesamte »Projekt« des Volkes Israel, das Ägypten verlassen hatte, um die Tora zu empfangen, gescheitert. Der Höhepunkt war der Dialog zwischen Gott und Mosche, in dem Gott das Volk vernichten und aus Mosche ein neues Volk erschaffen wollte. Doch Mosche flehte: »Lass ab von deiner Zornesglut und bedenke dich wegen des Unheils über dein Volk.« Was passiert hier? Wer ist das »wahre Volk«? Dasjenige, das das Goldene Kalb anbetete, oder dasjenige, das voller Begeisterung die Stiftshütte baute?
Die Antwort liegt nicht unbedingt im Volk selbst, sondern in seinem Anführer. Die Errichtung des Goldenen Kalbs wurde von Aharon geleitet, wohingegen Mosche den Bau der Stiftshütte anführte. Wenn wir den Unterschied in ihrer Art zu führen verstehen, können wir vielleicht auch die drastische Wendung nachvollziehen, die das Volk zwischen diesen beiden Ereignissen durchlief. Aharon war ein legendärer Anführer, doch in der Episode vom Goldenen Kalb stellte sich seine Herangehensweise – wenn auch im Nachhinein – als fehlerhaft heraus.
Das Volk weiß nicht, wo Mosche ist und wendet sich in seiner Verzweiflung an Aharon
Werfen wir einen Blick auf das Goldene Kalb: Mosche steigt für 40 Tage und Nächte auf den Berg Sinai, um die Tora zu empfangen, und das Volk weiß nicht, wo er ist. Es ist möglicherweise verzweifelt, verängstigt, verunsichert und wendet sich an Aharon. Der sieht die Lage des Volkes und hält sie für aussichtslos. Er glaubt nicht, dass er es überzeugen kann, geduldig auf Mosche zu warten. Sein Vertrauen in das Volk ist gering, und deshalb schafft er für die Israeliten eine schnelle Lösung in Form des Goldenen Kalbs. Kurzfristig mag das ein Trost gewesen sein, aber langfristig lenkte es das Volk vom vorgesehenen Weg ab.
Mosche hingegen vertraut dem Volk. Deshalb führt er mit Gott den Dialog, in dem er sich hartnäckig dafür einsetzt, dass dieses Volk eine zweite Chance erhält. Danach versammelt er das Volk (so wie der Name der Parascha, Wajakhel – auf Deutsch: »Er versammelte« – andeutet) und präsentiert ihm einen Aktionsplan für den Bau der Stiftshütte. Er bezieht die Menschen in alle Details ein, gibt ihnen eine aktive Rolle, anstatt sie in passiver Unsicherheit zu lassen, und erfüllt sie mit dem Geist der Schaffenskraft anstelle von Mutlosigkeit.
Darüber hinaus delegiert Mosche Aufgaben an andere, wie den Kunsthandwerker Bezalel, und macht damit deutlich, dass die Macht nicht nur in seinen Händen liegt. Schließlich schafft er ein gemeinsames kreatives Umfeld: Jeder ist eingeladen, sich am Bau und der Gestaltung der Stiftshütte zu beteiligen, sei es durch Spenden oder durch handwerkliche Arbeit.
Mosche zeigt, dass sein Vertrauen ins Volk nicht begrenzt ist, sondern für alle gilt
Die Tora betont nicht nur die breite Beteiligung der »Weisen des Herzens«, der Künstler und Handwerker, sondern auch die der Frauen. Die Schrift betont ihre Beiträge – seien es Spenden von Schmuck oder die Kunstfertigkeit im Weben. Mit Mirjam und ihrem »Lied des Meeres« war erstmals die weibliche spirituelle Kraft spürbar, beim Bau der Stiftshütte gibt es nun eine größere weibliche Beteiligung. Damit zeigt Mosche, dass sein Vertrauen ins Volk nicht begrenzt ist, sondern für alle gilt.
Die Macht, die in den Händen eines Anführers liegt, ist gewaltig. Dasselbe Volk, das innerhalb kürzester Zeit unter einem Anführer in eine gefährliche Richtung abdriftete, konnte unter einem anderen Anführer unglaubliche, wunderschöne Höhen gemeinsamer Arbeit erreichen – wie zu Beginn dieses Artikels beschrieben.
Heute gibt es Führungspersönlichkeiten von fast beispielloser Macht und Einfluss. Wir erleben, wie sich politische Strukturen vor unseren Augen verändern. Enorm ist die Macht, die in den Händen Einzelner gebündelt ist. Ein Anführer muss sich daran messen lassen: Nutzt er seine Macht zum Aufbau oder zur Zerstörung? Die Zeit wird es zeigen.
Der Autor ist Kantor der Israelitischen Kultusgemeinde Nürnberg.
inhalt
In dem Wochenabschnitt Wajakhel werden die Israeliten daran erinnert, dass sie das Schabbatgesetz nicht übertreten sollen. Die Künstler Bezalel und Oholiab sollen aus freiwilligen Spenden Geräte für das Stiftszelt herstellen, und es wird die Bundeslade angefertigt.
2. Buch Mose 35,1 – 38,20