Am 8. Tewet wurde in den Tagen des griechischen Königs Ptolemaios eine Torarolle geschrieben, und Finsternis kam über die Welt, drei Tage lang.» So wird im Scholion zur Fastenrolle, einem rabbinischen Werk aus dem 7. bis 11. Jahrhundert, erklärt, weshalb einst der 8. Tewet ein Fastentag war. Aber: Warum soll das Schreiben einer Torarolle Anlass zur Trauer sein? Und dann auch noch Finsternis - ist die Tora nicht eine Quelle des Lichts?
Die Rede ist hier von der ersten offiziellen schriftlichen Übersetzung der Tora in eine andere Sprache. Und das war das Griechische, denn das Zitat nimmt Bezug auf die Entstehung der Septuaginta im 3. Jahrhundert v.d.Z.
legende Der Legende nach hatte der hellenistische Herrscher Ptolemaios II. Philadelphos die Übersetzung in Auftrag gegeben, um in seiner berühmten Bibliothek von Alexandria (einem der sieben Weltwunder der Antike) auch ein (für ihn verständliches!) Exemplar dieser berühmten Schrift der Juden zu besitzen.
70 Weise hätten sich gleichzeitig an die Arbeit gemacht, jeder isoliert von den anderen in Kammern sitzend, und als sie ihre fertigen Übersetzungen miteinander verglichen, stellte sich heraus, dass sie identische Texte vorgelegt hatten. Der göttliche Geist hatte sie inspiriert und es wundersam gefügt, dass bei der Übertragung der Tora in eine andere Sprache nichts von Gottes am Sinai auf Hebräisch gesprochenem Wort verloren gegangen oder verfälscht worden war.
Seit 2300 Jahren gibt es Diskussionen über die Legitimität von Bibelübersetzungen.
Diese Wundergeschichte verdeutlicht, dass die Übersetzung der Tora in andere Sprachen umstritten war. Wegen des göttlichen Anspruchs des Originals musste ein solches Unterfangen als Götzendienst erscheinen, denn es gibt keine 100-prozentig identischen Übertragungen, jede Sprache birgt ihre eigene Bedeutungsvielfalt.
lebensumstände Gleichzeitig hatten geänderte Lebensumstände dazu geführt, dass Hebräisch nicht mehr die Umgangssprache war: Juden und Jüdinnen verstanden also die Tora nicht mehr. Die jüdische Gemeinschaft Alexandrias nahm damit eine religiös-kulturelle Auseinandersetzung vorweg, die bis heute charakteristisch für das jüdische Leben in der Diaspora ist.
Die Diskussion über die Legitimität und die Korrektheit von Bibelübersetzungen begleitet die jüdische Geschichte seit mindestens 2300 Jahren, und die Ablehnung solcher Vorhaben führte dazu, dass Hebräisch als Mittel der Verständigung überlebte, obwohl es nicht die Sprache des Alltags war.
Obgleich mit der «Wenzelbibel» schon im 14. Jahrhundert die erste christliche Übersetzung der Hebräischen Bibel ins Deutsche (allerdings ohne Kleine Propheten) vorlag und mit Verbreitung des Buchdrucks und Martin Luthers Übersetzung im 15./16. Jahrhundert ein enormer Schub für die Popularisierung der biblischen Schriften über den Kreis christlicher Theologen hinaus eingesetzt hatte, wirkte sich dies auf die jüdischen Gemeinden kaum aus. Es gab seit Ende des 16. Jahrhunderts Übersetzungen einzelner Texte (biblische und rabbinische Erzählungen, Haftarot, Gebete) ins Jiddische, darunter die populäre «Zennah Ur’ennah», die aber als «Weiberbibel» abgewertet wurde.
MENDELSSOHN Erst 200 Jahre später wurde die Frage einer deutschen Übertragung relevant. Als 1783 Moses Mendelssohn seine Übersetzung von Tora und Psalmen ins Hochdeutsche vorlegte, war dies Teil seiner Bemühungen um die Emanzipation der Juden in Deutschland. Ihm und den anderen Vertretern der Haskala, der jüdischen Aufklärung, ging es um den kulturellen und staatsbürgerlichen Anschluss der jüdischen Gemeinschaft an die Mehrheitsgesellschaft, von der sie bisher ausgegrenzt war.
Seine Übersetzung, die er um einen Kommentar, den «Biur», erweiterte, verfolgte das Ziel, die Leserschaft an die hochdeutsche Sprache heranzuführen. Zu diesem Zweck war der deutsche Text in hebräischen Buchstaben geschrieben, denn die lateinische Schrift beherrschten zu diesem Zeitpunkt nur jene Juden, die durch Handel oder Gelehrsamkeit im Austausch mit der nichtjüdischen Umgebung standen.
Später verlor diese Übertragung an Popularität, vor allem, weil sich ab den 1830er-Jahren eine neue Generation jüdischer Bibelübersetzer an ein Publikum wandte, dem das Deutsche zur Umgangssprache geworden war, aber auch, weil sie es ablehnten, in die Übersetzung midraschische Auslegungen einzuweben, wie es Mendelssohn getan hatte.
Seine Übertragung markiert einen historischen Meilenstein, war aber lange außer Gebrauch, bis sie 2001 von Annette Böckler als Teil des sogenannten Plaut-Kommentars neu herausgegeben wurde.
ZUNZ Die erste vollständige Übersetzung des Tanachs erschien 1837, angefertigt von vier Gelehrten unter der Redaktion von Leopold Zunz, einem führenden Vertreter der Wissenschaft des Judentums. Sie legten allein den massoretischen Text zugrunde, den sie möglichst genau in ein bis heute gut lesbares Deutsch übertrugen. Diese Ausgabe der Vier und zwanzig Bücher der heiligen Schrift erschien in hoher Auflage.
Auch Joseph Johlson hatte sich für seine 1831 bis 1839 in Frankfurt am Main erschienene Übersetzung ausschließlich auf den massoretischen Text bezogen, allerdings versuchte er, den Sprachduktus des Hebräischen möglichst getreu beizubehalten und sogar in der Wortfolge der deutschen Verse abzubilden.
Diese beiden Übertragungen machen exemplarisch das grundsätzliche Problem aller Bibelübersetzungen deutlich, nämlich, sich entscheiden zu müssen, entweder der Ursprungssprache oder der Zielsprache den Vorrang zu geben. Je gefälliger und lesbarer das Deutsch ist, umso mehr weicht es vom Originaltext ab. Wenn sich die Übersetzung aber darum bemüht, die hebräische Syntax und Wortfamilien beizubehalten, wirkt der deutsche Text oft künstlich und unverständlich.
PHILIPPSON Einen Mittelweg versuchte der Rabbiner und Publizist Ludwig Philippson (1859), der auch die Israelitische Bibelanstalt gründete.
Zu seiner Zeit war es schon eine allgemeine Notwendigkeit, die traditionellen Texte des Judentums auf Deutsch zu veröffentlichen, weil in der jüdischen Gemeinschaft die Kenntnis des Hebräischen nur noch rudimentär vorhanden war.
Wohl sind seit den Zeiten der Septuaginta Bibelübersetzungen als Zeichen der Assimilation und der Aufgabe des Judentums verdammt worden, dabei hatten sie stets das entgegengesetzte Ziel, nämlich Juden und Jüdinnen den Zugang zu ihrer Tradition und zum Reichtum ihrer Schriften zu ermöglichen.
HIRSCH Das hatte sich auch Rabbiner Samson Raphael Hirsch, der Begründer der Frankfurter Austrittsorthodoxie, vorgenommen, als er 1868 bis 1887 nach und nach die fünf Bücher Mose, später auch die Psalmen übertrug und mit einem Kommentar versah. Diese Ausgaben, ergänzt durch die Übersetzungen der Haftarot durch seinen Sohn Mendel Hirsch und der Megillot durch seinen Enkel Raphael Breuer, wurden zum Standardwerk orthodoxer Gemeinden und sind es bis heute.
Hirschs Ansatz war einzigartig: Er nahm den Ursprung der Tora als mündliche Offenbarung ernst und entwickelte daraus eine eigene Linguistik. Demzufolge konstituierten nicht die Konsonanten eine Sprachfamilie, also die Worte mit derselben hebräischen Wurzel, sondern die Sprechorgane. Alle Laute, die beispielsweise im Rachen gebildet werden (Resch, Chet, Ajin, Chaf) oder alle Labiallaute (Bet, Mem, Pe) seien so untereinander austauschbar.
In seiner Übersetzung berücksichtigte Hirsch auch halachische und aggadische Überlieferungen der rabbinischen Literatur, denn er wollte seine orthodoxe Leserschaft stärken und sich ganz bewusst davon, wie die Aufklärer mit dem Tanach umgingen, absetzen. Er warf ihnen eine «Abweichung von der Tradition» vor.
Aus der Berliner, eher akademisch orientierten Austrittsorthodoxie stammte die 1899 veröffentlichte Ausgabe von Pentateuch mit Haftarot. Ersterer wurde von Rabbiner Josef Wohlgemuth und Isaak Bleichrode übersetzt, die Prophetenlesungen von Lippmann Hirsch Löwenstein und Rabbiner Samuel Bamberger. Auch diese Ausgabe ist heute in vielen Synagogen zu finden.
Die Wiederentdeckung einer vergessenen Übersetzung wurde erst jüngst durch Chajm Guski und seine Webseite talmud.de ermöglicht: Es ist die Arbeit des Rabbiners, Hebraisten und Publizisten Simon Bernfeld, der 1902 Die Heilige Schrift in eigener Übersetzung und Kommentierung herausgab. Sie zeichnet sich durch große Genauigkeit aus. Etwas eigenartig mutet die Wiedergabe des Gottesnamens als «Herr» an, was sonst eher in christlichen Bibelübersetzungen üblich ist. Bis 1936 erschienen sechs Auflagen, und künftig wird sie im deutschen Sprachraum sehr an Bedeutung gewinnen, weil sie als deutsche Standardübersetzung auf sefaria.org erscheint.
BUBER-ROSENZWEIG Eher als Nachdichtung ist Die Schrift, die 1925 bis 1929 erschienene Übersetzung von Martin Buber und Franz Rosenzweig, zu bezeichnen. Ihnen war es ein Anliegen, den mündlichen Ursprung und die hebräische Sprachstruktur so genau wie möglich abzubilden – in den Worten Rosenzweigs, «den fremden Ton in seiner Fremdheit wiederzugeben». Eine hebräische Wurzel wird stets auf gleiche Weise übersetzt, viele neue Worte werden geschaffen, der Rhythmus der Sprache wird beibehalten. Das Original lässt sich tatsächlich besser nachvollziehen, das kreative Deutsch ist eine Herausforderung, aber als Studienbibel ist Die Schrift nahezu unverzichtbar.
Etwa zeitgleich arbeitete der Hebraist Harry Torczyner an seiner Bibelübersetzung, die noch 1934 in Deutschland erschien, als er schon nach Jerusalem emigriert war und dort unter dem Namen Naftali Herz Tur-Sinai zu einem wichtigen Erneuerer der hebräischen Sprache wurde. Auch er bemühte sich darum, die biblische Originalsprache im Deutschen kenntlich werden zu lassen, aber er weicht häufig vom einfachen Wortsinn ab, weil es ihm wichtig war, in seine Übertragung auch traditionelle Auslegungen zu integrieren.
In den vergangenen 90 Jahren gab es keine deutsche Neuübersetzung des Tanachs mehr.
Buber und Tur-Sinai überarbeiteten ihre Übersetzungen in den 50er-Jahren von Jerusalem aus – nun ihres Publikums beraubt, für das sie diese Arbeit bestimmt hatten. Als 1963 nach Abschluss der Arbeiten Die Schrift in Bubers Haus präsentiert wurde, würdigte Gerschom Scholem die Übersetzung als «Gastgeschenk, das die deutschen Juden dem deutschen Volk in einem symbolischen Akt der Dankbarkeit noch im Scheiden hinterlassen konnten», und fügte in Bitterkeit hinzu, dass sie «das Grabmal einer in unsagbarem Grauen erloschenen Beziehung» geworden sei.
textausgaben Ein Aspekt dessen ist sicher, dass es in den vergangenen 90 Jahren keine deutsche Neuübersetzung des Tanachs mehr gegeben hat, sondern in unseren Gemeinden allein Textausgaben des 19. Jahrhunderts benutzt werden.
Immerhin sind durch die Digitalisierung seit einigen Jahren mehrere vergessene Übersetzungen wieder zugänglich, in Druckform und im Internet. Schon seit vielen Jahrhunderten ist der 8. Tewet als Fastentag aufgegeben worden, denn eigentlich ist jede Bibelübersetzung ein Anlass zur Freude. In aller Unterschiedlichkeit der Ansätze steckt dahinter jedes Mal das Bemühen, diesen kostbaren Text zu uns sprechen zu lassen, über alle Zeiten und Sprachgrenzen hinweg.
Die Autorin ist Rabbinerin der Jüdischen Gemeinde Hameln und Mitglied der Allgemeinen Rabbinerkonferenz Deutschland (ARK).