In Deutschland einen koscheren Haushalt zu führen, ist mitunter gar nicht so einfach. Nicht nur, dass es meist teurer ist und das Einkaufen mit Koscherlisten und Produktsuche viel Kreativität verlangt.
Zudem gibt es häufig gar kein Geschäft mit explizit koscheren Lebensmitteln am eigenen Wohnort. Speziell in kleineren Gemeinden ist das ein Problem, denn nicht jeder will sich die Mühe machen, koscheres Fleisch, Käse, Wein und andere Produkte, die es in der Regel in den üblichen Supermärkten nicht koscher gibt, zu bestellen oder weit zu einem Koscherladen zu fahren.
Wie ist es aber andersherum? Was passiert, wenn in der Nähe eines etablierten Koschergeschäfts ein zweites eröffnet und dem ersten Konkurrenz macht?
Talmud Im Talmud wird ein solches Beispiel diskutiert. Es heißt dort (Baba Batra 21b): »Raw Hona sagte: Wenn ein Anwohner der Durchgangsgasse eine Mühle aufgestellt hat und ein anderer in derselben Durchgangsgasse kommt und ebenfalls eine solche aufstellt, so hat jener das Recht, es ihm zu verwehren, denn er kann zu ihm sagen: Du schneidest mir meinen Lebensunterhalt ab.«
Pflaumen Weiter lesen wir im Text: »Raw Jehuda sagt, ein Krämer dürfe keine Rostähren und Nüsse an Kinder verteilen, weil er sie dadurch zu ihm zu kommen anlockt; die Weisen (...) erlauben dies. Du kannst auch sagen, dass er der Ansicht der Rabbanan ist, denn die Rabbanan streiten gegen Raw Jehuda nur in jenem Falle, weil er zum anderen sagen kann: Ich verteile Nüsse, verteile du Pflaumen.«
Im Talmud wird also diskutiert, ob es erlaubt ist, ein neues Geschäft (das unmittelbar in Konkurrenz zu dem anderen steht) in der Nähe eines anderen Geschäfts zu eröffnen oder nicht. Rabbiner Hona sagt, dass es verboten ist, weil es die Lebensgrundlage des etablierten Geschäfts gefährdet. Rabina dagegen sagt, dass Rabbiner Hona nur eine Minderheitenmeinung vertritt. Damit wäre es erlaubt, ein neues Geschäft zu eröffnen.
Doch ganz so einfach ist die Frage nicht. Das Beispiel von Raw Jehuda diskutiert, ob bestimmte »Marketingmaßnahmen«, also Geschenke an Kunden, erlaubt sind, wenn zwei Geschäfte, die bereits bestehen (also nicht erst eines neu eröffnet wurde), miteinander konkurrieren. Daher ist es durchaus möglich, dass die Rabbanan (also die Mehrheitsmeinung) hier sehr wohl Rabbiner Hona unterstützen würden und damit die Neueröffnung verboten wäre.
Dazu gibt es aber wiederum einen Einwand, denn die Frage stellt sich, was wichtiger ist: der Lebensunterhalt des etablierten Geschäftsmanns oder das Recht des neuen Geschäftsmanns, über sein Eigentum zu bestimmen, wie er es selbst für richtig hält? Die Diskussion im Talmud endet nicht eindeutig.
Doch alle Rabbinen sind sich darin einig, dass es grundsätzlich erlaubt ist, ein neues Konkurrenzunternehmen zu gründen, wenn es an einem anderen Ort in derselben Stadt liegt, zumindest aber in dem Fall, wenn in dieser Stadt auch Steuern gezahlt werden. Daher überrascht es nicht, dass die meisten Rabbiner – basierend auf dieser Talmuddiskussion – entschieden haben, dass es grundsätzlich erlaubt ist, ein konkurrierendes Geschäft zu eröffnen.
Schulchan Aruch So steht es auch im Schulchan Aruch: »Wenn es einen Fachmann irgendeines Berufes in einer Gasse gibt (...) oder ein Geschäft (...) und eine andere Person kommt und wünscht, ein Geschäft dort zu kaufen, das die gleichen Produkte verkauft, so kann er dies tun. Der erste Besitzer kann ihm nicht im Weg stehen, indem er behauptet: ›Du beraubst mich meines Lebensunterhalts.‹ Das gilt sogar dann, wenn die zweite Person aus einer anderen Gasse derselben Stadt kommt« (Choschen Mischpat 156,5). Der Jad Rama erklärt das in seinem Kommentar zu der bereits zitierten Talmudstelle (Baba Batra 21b) damit, dass die Autonomie des Geschäftsmannes grundsätzlich wichtiger ist als die Sorge um den Lebensunterhalt des anderen.
So heißt es auch im Talmud: »Man wandte ein: Jeder darf einen Laden neben dem Laden eines anderen oder ein Badehaus neben dem Badehaus eines anderen eröffnen; dieser kann es ihm nicht verbieten, denn jener kann zu ihm sagen: Du tust dies auf deinem Gebiete, und ich tue es auf meinem Gebiete.« Allerdings gilt dies nur, wenn alles fair abläuft und das neue Geschäft keinen dramatischen Eingriff in den Lebensunterhalt eines anderen bedeutet. Was aber, wenn das nicht der Fall ist, wenn absehbar ist, dass es nur genügend Umsatz für ein einziges Geschäft gibt – und dass der Besitzer des etablierten Geschäfts große finanzielle Einbußen hinnehmen muss, bis hin zur Pleite?
Psalm Dann handelt es sich um einen absichtlichen Eingriff in den Lebensunterhalt des Geschäftsbesitzers. Der Talmud findet dafür deutliche Worte (Makkot 24a): »›Ein Psalm Davids. Herr, wer darf in Deinem Zelte wohnen, wer darf auf Deinem Heiligen Berg ruhen? Wer makellos wandelt und recht tut ... seinem Nächsten nichts Böses zufügt ... (Psalm 15,1-3)‹. Was bedeutet ›Seinem Nächsten nichts Böses zufügt?‹ Das bezieht sich auf denjenigen, der nicht ins Handwerk seines Nächsten greift.«
Es gibt also durchaus Situationen, in denen ein neues Geschäft laut Halacha nicht eröffnet werden darf. Im Kommentar Schaarei Tschuwa (zu Schulchan Aruch, Choschen Mischpat 156,5) beispielsweise heißt es: »Wenn eine Person am Ende einer Sackgasse einen Laden hat, kann sie einen anderen daran hindern, am Eingang der Sackgasse einen Laden zu eröffnen, da es den Kunden nicht möglich ist, den ursprünglichen Laden zu erreichen, ohne am neuen vorbeigehen zu müssen, und er nimmt damit faktisch alle Kunden weg.«
Noch konkreter ist die Ergänzung des Rama (zu Schulchan Aruch, Choschen Mischpat 156,5): »Einheimische Händler können den Zugang von Geschäftsleuten aus anderen Städten für die Gründung von Unternehmen in deren unmittelbarer Nachbarschaft verhindern, wenn sie direkt mit den einheimischen Händlern konkurrieren. Die auswärtigen Geschäftsleute dürfen allerdings ein Geschäft in einer anderen Nachbarschaft einrichten, wo sie nicht mit den einheimischen Händlern konkurrieren, solange sie Steuern an die Stadt zahlen.«
Iggrot Mosche Daher entscheidet Rabbiner Moshe Feinstein (Iggrot Mosche, Choschen Mischpat 1,38), dass man kein Geschäft eröffnen darf, wenn es den Lebensunterhalt eines anderen zerstört. Der Verlust des Lebensunterhalts wird dabei übrigens nicht als völlige Verarmung definiert, sondern das Wegnehmen der finanziellen Möglichkeiten, die eine durchschnittliche Person in dieser sozioökonomischen Schicht hat.
Zusammenfassend kann man festhalten, dass zwar der eigene Besitz grundsätzlich wichtiger ist als die Sorge um den Lebensunterhalt des anderen – und dass die Halacha in den meisten Fällen Konkurrenz erlaubt und den freien Markt durchaus achtet.
Wenn aber ein neues Koschergeschäft in unmittelbarer Nähe zu einem etablierten Geschäft eröffnet werden soll und der Lebensunterhalt konkret und stark gefährdet ist, da der lokale Koschermarkt nicht groß genug ist, um ein neues Geschäft zusätzlich gewinnorientiert zu betreiben, dann darf dieses Geschäft nicht eröffnen.
Der Autor ist Rabbiner der Jüdischen Gemeinde Darmstadt und Mitglied der Orthodoxen Rabbinerkonferenz (ORD).