Traditionen

Koscher rasiert?

Wenn das Stichwort »Bart« fällt, denken viele Menschen sofort an Rabbiner in schwarzen Kleidern, die gebückt über Folianten brüten und sich gedankenvoll in den Bart fassen.

In der jüdischen Religion, in der 613 Mizwot das praktische Leben bestimmen, gibt es allerdings keine Bestimmungen über Bartlänge, Form und Pflege. Meist sind es die Ehefrauen, die Rebbetzins, die hier das letzte Wort haben. Wenn es um das Aussehen geht, findet man in der Tora fast nur bei Frauen eine hilfreiche Beschreibung. Männer, zumindest die Israeliten, trugen in den biblischen Zeiten einen Bart, ohne dass wichtig gewesen wäre, dies zu erwähnen.

BRÄUCHE Religiöse Juden tragen Bärte aus Tradition. Es gilt wie so oft: Bis heute wird der Stil beibehalten, wie frühere Rabbiner sich äußerlich präsentierten. Es sind also nicht Gesetze im engeren Sinn, die das Aussehen der Juden bestimmen, sondern traditionelle Gepflogenheiten. Bräuche im Judentum haben manchmal eine stärkere Wirkung als Gesetze.

Länge, Form und Pflege sind nicht vorgeschrieben. Oft haben die Frauen das letzte Wort.

Neben der Tradition wird auch »Bitul Sman« aufgeführt: Zeitverschwendung. Wer jeden Tag fünf Minuten für Rasur aufwendet, investiert im Jahr etwa 1500 Minuten (den Schabbat nicht eingerechnet) für Äußerlichkeiten. In diesen 25 Stunden liegt dann das Torastudium brach.

Immer wieder wird auch auf die semantische Ähnlichkeit zwischen den hebräischen Wörtern Bart und Alter hingewiesen. »Sakan«, hebräisch für Bart, enthält dieselben hebräischen Buchstaben wie »Saken«, das für den älteren Mann steht. Im Hebräischen wird »Saken« auch für weise, klug verwendet. Die Assoziation ist immer noch tief verwurzelt: Ein älterer Mann mit gepflegtem Vollbart erscheint uns auch heute als klug und weise.

diskussionen Wenn wir sagen, dass das Judentum keine Vorschriften über die Bartlänge kennt, darf man gleichzeitig den Vers 3. Buch Mose 19,27 nicht außer Acht lassen: »Und die Ecken deines Bartes sollst du nicht zerstören.« Was man unter Ecken versteht, ist natürlich wiederum Gegenstand der Diskussionen.

Der Schulchan Aruch (Jore Dea 181) schränkt das biblische Rasierverbot auf die Benutzung von klassischen Rasiermessern ein. Die populäre Zusammenfassung des Schulchan Aruch, der Kizzur Schulchan Aruch, geht auf die Unterschiede bei der Rasur kurz ein, fasst dann aber knapp zusammen: »Wer gottesfürchtig ist, schneidet seinen Bart gar nicht« (Paragraf 170).

Diese verallgemeinernde Haltung löst aber keine heutigen Probleme. Mit dem Aufkommen moderner Rasierapparate tauchte ab Mitte des 20. Jahrhunderts zudem die Frage auf, ob die neuen Geräte überhaupt erlaubt seien.

ELEKTRISCH Die Frage spaltete die Rabbiner. Die damals bedeutendste rabbinische Autorität, Rabbiner Moshe Feinstein (1895–1986), erlaubte die Verwendung elektrischer Rasierapparate. Wenn auch nur mit Bauchschmerzen, wie seine wichtigsten Schüler später behaupteten.
Die Frage, welche Apparate heute erlaubt sind und welche nicht, bleibt als Thema weiterhin aktuell und führt zu großen Kontroversen.

Dass Rabbiner Feinstein damals die elektrischen Rasierapparate der ersten Generationen für koscher erklärte, hatte nämlich auch damit zu tun, dass diese Modelle noch nicht so leistungsstark wie die heutigen waren. Eine glatte Rasur wie mit dem geschliffenen Rasiermesser war damals noch nicht möglich. Wer heutzutage sichergehen möchte, kein biblisches Gebot zu übertreten, findet im Internet zertifizierte Rasiergeräte.

Junge Rabbiner pflegen ihre Bärte intensiver, als es ihre Vorgänger taten.

Doch warum verbietet die Tora das generelle Abschneiden der Gesichtsbehaarung? Der Rambam (1135–1204) erwähnt in seinem Standardwerk Mischne Tora nichtjüdische Priester, bei denen es üblich gewesen sei, dass sie ihre Bärte abschnitten. »Deshalb verbietet die Tora das Entfernen des Bartes«, so seine Erklärung. An anderer Stelle verweist der Gelehrte auf christliche Mönche, die glattrasiert waren.
Aus diesem Verbot hat sich bei manchen allerdings sogar ein Kult entwickelt. Das Judentum, egal in welcher Ausprägung, orientiert sich immer auch an der Umwelt.

Und wo religiöse Frauen aufsehenerregende Scheitel, Perücken, tragen, dort erkennt man auch bei unseren Rabbinern eine gewisse Orientierung an der modernen Barbier-Kultur. Junge Rabbiner pflegen und stutzen ihre Bärte deutlich intensiver und akkurater als ihre Vorgänger.

ORDINATION Das zeigte sich auch bei der Ordination neuer Rabbiner im Beisein des Bundespräsidenten vergangenen November. Die Mehrheit der jungen bis mittelalten Männer hatte perfekt gestutzte Bärte. Die Anforderungen an Rabbiner betreffen heutzutage offenbar auch das äußerliche Auftreten.

Ist ein Rabbiner überhaupt ohne Bart vorstellbar? Ja, auch hier hat sich vieles verändert. Vor allem in den USA treten rasierte Rabbiner auf. Es sind dies etwa der vor einem Jahr verstorbene amerikanische Rabbiner Zecharia Wallerstein oder der prominente Rabbiner Eli Stefansky, dessen YouTube-Vorträge tausendfach geklickt werden. Und natürlich darf in diesem Zusammenhang auch Rabbiner William Wolff (1927–2020) nicht unerwähnt bleiben, dessen Verlust immer noch schmerzt.

Der Autor ist Journalist in Zürich und hat an Jeschiwot in Gateshead und Manchester studiert.

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