Brauch

Kopfloser Schatten

Im 17. und 18. Jahrhundert war eine Schrift mit dem Namen »Minhogim-Buch« in Europa weit verbreitet. Dieses Buch beschrieb in deutscher Sprache, aber in hebräischen Buchstaben das ganze jüdische Jahr, seine Bräuche und Vorschriften. Die meisten Feiertage wurden bebildert. Das Buch wurde an verschiedenen Orten gedruckt und fand so zahlreiche Leser. Die Illustrationen und Texte wurden von verschiedenen Druckern einfach übernommen oder nachgezeichnet. So zeigen nahezu alle Ausgaben ähnliche oder gleiche Bilder. Allerdings beschrieb das Minhogim-Buch keine Ideale, sondern Bräuche – und zwar so, wie sie praktiziert wurden.

Für Hoschana Rabba, den siebenten Tag von Sukkot, der dieses Jahr auf Mittwoch, den 15. Oktober, fällt, zeigen viele Ausgaben dieses Buches ein interessantes Bild. Ein Mann steht im Mondlicht mit einem Weidenzweig auf einem Feld und betrachtet eine dunklere Person, die ihm gegenübersteht. Allerdings hat diese Person keinen Kopf!

Schatten Es ist nicht davon auszugehen, dass der unbekannte Illustrator nicht aufgepasst hat, sondern viel eher, dass er einen Minhag oder eine Überlieferung beschreibt. Der Text gibt darüber Auskunft, was wir sehen: den kopflosen Schatten des Mannes. Dann beschreibt das Buch den Brauch oder Aberglauben, der heute so gut wie vergessen ist: Wer in der Nacht von Hoschana Rabba nach draußen geht und seinen Schatten im Mondlicht betrachtet, weiß demnach, welches Schicksal ihn im neuen Jahr ereilen wird.

Wird sein Schatten vollständig gezeigt, dann wird er leben, wird sein Schatten ohne Kopf gezeigt, dann wird er sterben. »Minhag haZel« heißt dieser unheimliche Brauch – »Minhag des Schattens«. Er wurde im Minhogim-Buch dokumentiert, reicht aber in der jüdischen Geschichte noch ein wenig weiter zurück.

Bereits im 12. Jahrhundert stoßen wir auf einen Satz, der mit dem Minhag haZel in Verbindung steht. Eleasar ben Jehuda aus Mainz (1176–1238) berichtet in seiner Zusammenfassung von Halachot, bezeichnet als HaRokeach (221), dass an Rosch Haschana das Schicksal des Menschen beschlossen und an Jom Kippur besiegelt wird – und dass dies an einem Schatten an Hoschana Rabba sichtbar wird. Der Prozess gegen den Menschen wird also zwischen Rosch Haschana und Jom Kippur geführt, und laut Eleasar ben Jehuda kann man seinen Ausgang an Hoschana Rabba »sehen«.

Mut Aber der Brauch ist noch älter. Es klingt darin eine Praxis an, die schon zu rabbinischen Zeiten bekannt war. Bereits Rabbi Ammi sagt im Talmud (Horajot 12a), dass jemand, der auf eine Reise geht und wissen möchte, ob er auch zurückkehren wird, in ein dunkles Haus gehen soll. Wenn er seinen Schatten sieht, dann wird er auch sicher wiederkommen. Rabbi Ammi rät übrigens davon ab, dieser Praxis nachzugehen, damit die Person nicht vollständig den Mut für Unternehmungen verliert.

Klingt, als wäre das guter Stoff für einen gruseligen Film, aber nicht nur das. Es ist die Widerspiegelung eines Konzepts, das hinter Hoschana Rabba steht. Der Schatten ist nämlich ein Symbol an sich. Wenn in der Tora über die Bewohner des »Landes« gesprochen wird und die Angst, die die Kinder Israels vor ihnen hatten, heißt es: »Gewichen ist ihr Schatten von ihnen und mit uns ist Haschem; fürchtet sie nicht« (4. Buch Mose 14,9). Das kann zum einen so gemeint sein, wie es sich der Verfasser des Minhogim-Buches gedacht hat, oder so, dass die Bewohner des Landes keinen Schutz mehr genießen.

Die Psalmen helfen bei der Interpretation weiter. Es heißt dort: »Haschem ist dein Hüter, Haschem ist dein Schatten über deiner rechten Hand.« Der »Schatten« G’ttes ist ein Bereich, in dem man Schutz erwarten kann. Es geht also um den Schutz G’ttes, der hier in den Überlieferungen »sichtbar« wird.

Wasser Wird man schon an Jom Kippur in das »Buch des Lebens« eingeschrieben? Ist das Urteil tatsächlich schon gesprochen? Vielleicht noch nicht. In der Mischna (Rosch Haschana 1,2) wird bestimmt, dass Sukkot das Fest ist, an dem alle »nach dem Wasser« gerichtet werden. Dabei geht es um die Wasserzuteilung für die Welt und möglicherweise auch darum, welches Geschöpf im kommenden Jahr kein Wasser benötigen wird. Das erklärt zugleich, warum wir in den Gebeten von Sukkot so häufig dem Regen und dem Wasser begegnen. Also besteht hier eine Verbindung zu den Hohen Feiertagen, die nicht ganz abgeschlossen sind. Denn der Mensch hat noch die Möglichkeit, ein schlechtes Urteil abzuwenden.

Diese Vorstellung hat auch im Zohar ihren Niederschlag gefunden (Wa’jechi 12a). Hier steht, dass das himmlische Urteil erst an Hoschana Rabba besiegelt wird. Aus diesem Grund trägt der Vorbeter in einigen Gemeinden am siebten Sukkottag weiße Kleidung, genau wie an Jom Kippur, und vielleicht erklärt sich dadurch auch, dass es Brauch geworden ist, in der Nacht von Hoschana Rabba lange Tora zu lernen und sich engagiert zu zeigen.

Der Brauch des kopflosen Schattens jagt uns vielleicht einen leichten Schauder über den Rücken, aber er ist mehr als eine Geschichte: Er zeigt eine Verbindung zu Rosch Haschana und Jom Kippur auf. Wer den Brauch nun kennt, wird, obwohl er ihn vielleicht für unsinnig hält, möglicherweise an Hoschana Rabba nicht nur zufällig einen Blick auf den Schatten des eigenen Körpers im Mondlicht werfen.

Zauberwürfel

Knobeln am Ruhetag?

Der beliebte Rubikʼs Cube ist 50 Jahre alt geworden – und hat sogar rabbinische Debatten ausgelöst

von Rabbiner Dovid Gernetz  09.01.2025

Geschichte

Das Mysterium des 9. Tewet

Im Monat nach Chanukka gab es ursprünglich mehr als nur einen Trauertag. Seine Herkunft ist bis heute ungeklärt

von Rabbiner Avraham Radbil  09.01.2025

Wajigasch

Nach Art der Jischmaeliten

Was Jizchaks Bruder mit dem Pessachlamm zu tun hat

von Gabriel Umarov  03.01.2025

Talmudisches

Reich sein

Was unsere Weisen über Geld, Egoismus und Verantwortung lehren

von Diana Kaplan  03.01.2025

Kabbala

Der Meister der Leiter

Wie Rabbiner Jehuda Aschlag die Stufen der jüdischen Mystik erklomm

von Vyacheslav Dobrovych  03.01.2025

Tradition

Jesus und die Beschneidung am achten Tag

Am 1. Januar wurde Jesus beschnitten – mit diesem Tag beginnt bis heute der »bürgerliche« Kalender

von Rabbiner Jehoschua Ahrens  01.01.2025 Aktualisiert

Chanukka

Sich ihres Lichtes bedienen

Atheisten sind schließlich auch nur Juden. Ein erleuchtender Essay von Alexander Estis über das Chanukka eines Säkularen

von Alexander Estis  31.12.2024

Brauch

Was die Halacha über den 1. Januar sagt

Warum man Nichtjuden getrost »Ein gutes neues Jahr« wünschen darf

von Rabbiner Dovid Gernetz  01.01.2025 Aktualisiert

Mikez

Schein und Sein

Josef lehrt seine Brüder, dass die Dinge nicht immer so sind, wie sie auf den Betrachter wirken

von Rabbiner Avraham Radbil  27.12.2024