Jom Kippur gehört neben Tischa beAw zu den zwei langen Fasttagen unserer Tradition. An ihnen enthalten wir uns von Sonnenuntergang bis zum Sternenaufgang des Folgetages aller Speisen und Getränke. Natürlich gilt das Fasten für Schwangere und Kranke nur in beschränkter Form. Doch für diejenigen, die vollfasten, kann dieser Entzug schwierig und anstrengend sein – selbst, wenn man den Körper am Vortag ordentlich mit Energie ausgestattet hat.
Zuweilen wankt das Durchhaltevermögen, und die Versuchung wächst – dem Willen zuwider. Allerdings ist Jom Kippur der deutlich leichtere Fastentag von beiden. Zu Tischa beAw endet das Sagen der Kinot, der Klagegebete gewöhnlich bereits am frühen Nachmittag. Da der neunte Aw in den Hochsommer fällt, verbleiben noch viele Stunden bis zum Nachmittags- und Abendgebet. In dieser Zwischenzeit gibt es kein Gebet im Minjan. Auch sonst ist fast jede Ablenkung untersagt, und nur bestimmte Formen des Torastudiums sind gestattet.
konzentration Ohnehin fällt die Konzentration vielen Menschen nach dem Verstreichen so vieler Stunden ohne Nahrung bereits schwer. Hier entsteht am Nachmittag und frühen Abend also ein großer, zeitlicher Zwischenraum, der schwer zu füllen ist. Vielmehr lenken sich alle Gedanken nahezu von allein auf die Tatsache, dass man hungrig und durstig ist und nichts dagegen tun kann. Man wünscht sich, dass das vergangene Morgengebet den ganzen Tag über angedauert hätte. Denn die Beschäftigung mit dem Gebet im Minjan erleichtert das Fasten ungemein.
Im Gegensatz zu Tischa beAw trifft aber genau dies auf Jom Kippur nicht zu. An das lange Schacharit-Gebet schließt sich das zeitintensive Mussaf an, dann Mincha, Neila und Maariw. Man kommt fast nicht dazu, sich eine Pause zu nehmen.
Natürlich bleibt man sich der Tatsache bewusst, dass man fastet, und schwächelt dementsprechend. Und das ist auch gut so. Aber man rutscht, im Gebet verweilend, nicht in die Tiefen einer Fastendepression. Man bleibt konzentriert und kann den Tag mit Fasten und Würde zugleich überstehen, so wie es seiner Heiligkeit angemessen ist. Die Vorfreude auf die Prophetenlesung am Nachmittag mag dann noch im Besonderen stärken – auch gewährt sie dem Gebetsmüden eine größere Pause. Jom Kippur füllt sich also wie von selbst und reicht dabei noch die helfende Hand beim Fasten.