Welches Gebet würden Sie nach der Geburt eines nichtjüdischen Enkelkindes sprechen? Mit welchen Worten würden Sie sich an Gott nach einem Schwangerschaftsabbruch, einer Scheidung oder einem Konkurs wenden?
Den meisten würde wohl nicht auf Anhieb das passende Gebet einfallen. Doch das jetzt von Annette M. Boeckler, Dozentin für Liturgie am Leo Baeck College in London, ins Deutsche übersetzte Buch Sprachlos Worte finden des Reformrabbiners Jonathan Romain könnte Abhilfe schaffen.
Es präsentiert, wie es der Untertitel ankündigt, »neue jüdische Gebete für besondere Situationen« und geht auf Ereignisse ein, über die man nicht immer gerne spricht oder mit allen sprechen kann, auch wenn sie in der jüdischen Gemeinschaft keineswegs selten sind.
Defizit Juden, glaubt Rabbiner Romain, hätten ein Defizit in ihren Gebeten: »Wir verlassen uns eher auf Texte, die in den Gottesdiensten benutzt werden, als dass wir unsere eigenen formulieren würden.« Jüdische Beter orientierten sich am offiziellen Wochentags-, Schabbat- und Festtagsgebet, fänden darin aber nicht immer die passenden Worte für bestimmte Gefühle oder chaotische persönliche Situationen.
Mit den in seiner Sammlung veröffentlichten Gebeten, die von Mitgliedern der englischen Rabbinerversammlung Assembly of Reform Rabbis UK verfasst wurden, will Romain – er leitet die Maidenhead-Synagoge westlich von London – keine neuen Vorgaben schaffen, sondern vielmehr die Leser dazu inspirieren, eigene Gebete für ihre speziellen Bedürfnisse zu verfassen.
Fehlgeburt »Möge es dein Wille sein, dass wir gestärkt werden sowohl durch unsere Hoffnungen als auch durch unsere Enttäuschungen, und dass wir diejenigen, die wir haben, umso tiefer lieben lernen«, heißt es in einem Gebet von Walter Rothschild. Der frühere Landesrabbiner von Schleswig-Holstein hat es für Paare verfasst, die eine Fehlgeburt erlebt haben.
Rabbiner Charles Middleburgh, Dekan des Leo Baeck College, gibt der Trauer über den Tod eines Haustieres Ausdruck: »Ich danke dir für Jahre der Loyalität und der Gemeinschaft.«
Und der Psychoanalytiker Howard Cooper hat ein Gebet »Nach dem Verlust des Arbeitsplatzes« geschrieben, das mit »Singt dem Ewigen ein neues Lied!« beginnt. Ob das wohl hilft?
Eine Einleitung in die Praxis des jüdischen Gebets rundet das Buch ab. Der Überblick zeigt, welche unterschiedlichen Vorstellungen es davon gibt. Ist das Gebet im Judentum mehr als die Gemeinschaft des Menschen mit Gott?
Der Autor glaubt, das jüdische Gebet sei zwar keine »Selbst-Therapie«, enthalte aber ein starkes Element kritischer Reflexion. Biblische Gestalten hätten einfach mit Gott gesprochen, anstatt ihn anzuflehen. Während in der Tora das Wort »beten« kaum vorkomme, vermute der Midrasch, das erste Gebet sei die Diskussion zwischen Gott und Awraham über die Zukunft Sodoms und Gomorras gewesen.
Kollektiv Doch beantwortet Gott Gebete von Einzelnen überhaupt, oder nimmt er nur kollektive Gebete entgegen? Auf diese Frage hat Rabbiner Romain keine eindeutigen Antworten, gibt aber hilfreiche Tipps. Er empfiehlt etwa, die Pflichtgebete für Freitagabend zu Hause alleine zu rezitieren, wenn man nicht in der Lage ist, eine Synagoge aufzusuchen, um mit der Gemeinde in Verbindung zu bleiben.
Für aktive Gemeindevertreter dürfte vielleicht das »Gebet vor einer Gemeindeleitungs-Sitzung« wegweisend sein, das von den Rabbinern Lionel Blue und Jonathan Magonet stammt: »Möge keine unserer Debatten aus Ehrgeiz und Selbstverwirklichung so aufwallen wie die des Korach, sondern mögen alle unsere Debatten um Gottes Willen geführt werden, wie die von Hillel und Schammai.« Da bleibt nur zu sagen: Amen!
Jonathan Romain: »Sprachlos Worte finden. Neue jüdische Gebete für besondere Situationen.« Jüdischer Verlag für Gemeindeliteratur, London 2015, 106 S., 34 €