Kann es sein, dass die Ägypter beim Auszug aus Ägypten nach Strich und Faden betrogen wurden? Vorsätzlich? Und wenn dem so ist, von wem angeordnet? Mit diesem Argument erschien eine ägyptische Abordnung vor mehr als 2300 Jahren vor dem damaligen »internationalen Gerichtshof« in Form des neuen Welteroberers und Herrschers Alexander dem Großen und forderte ihr Recht ein. So erzählt der Talmud (Sanhedrin 91a), wie sie zurückforderten, was ihnen zu Unrecht von den Israeliten beim Auszug aus Ägypten weggenommen worden sei.
Aber beginnen wir besser von vorn: Der Auszug aus Ägypten steht unmittelbar bevor, Pharaos Wille ist nach hartnäckigem Widerstand endlich gebrochen, als auch sein Erstgeborener wie die anderen Erstgeborenen Ägyptens mit der zehnten Plage stirbt, woraufhin er verstört Mosche und Aharon auffordert, Ägypten, wie von ihnen gefordert, zu verlassen.
sklaverei Auch die Ägypter drängen schon müde und geschlagen zum Auszug, und die Israeliten sind wegbereit: »Und die Kinder Israels zogen von Ramses weg Richtung Sukkot« (2. Buch Mose 12,37). Jahrhunderte der Sklaverei lassen sie hinter sich. Doch einen Moment zuvor findet noch folgende letzte Handlung in Ägypten statt: »Und die Kinder Israels taten, wie Mosche geheißen, und sie erbaten sich von den Ägyptern silberne und goldene Geräte und Kleider … und sie gaben ihnen das Verlangte; also plünderten sie Ägypten« (35–36).
Wenn den Israeliten das Geld zustand, warum es dann nicht offen von den Ägyptern einfordern?
Im Hebräischen heißt das Wort »erbaten« »wajischalu«, was auch mit »ausleihen« zu übersetzen ist und der vor Alexander vorgetragenen Klage der Ägypter noch mehr Gewicht verleiht: Die Israeliten hätten sich zu Unrecht ihren Besitz angeeignet und nie zurückerstattet. Der Talmud erzählt weiter, wie Gawiha ben Passisa erfolgreich entgegenhält, dass den Israeliten schließlich der Lohn resultierend aus Jahrhunderten der Sklaverei zustand und noch längst nicht abgegolten war, womit Alexander die Klage abwies.
Doch auch nach der gelungenen Antwort Gawihas bleibt ein moralisch unwohler Beigeschmack zurück: Wenn den Israeliten das Geld zustand, warum es sich dann listig aneignen und nicht offen von den Ägyptern als solches einfordern? Warum so tun, als ob die Gegenstände nur ausgeliehen würden?
DREI-TAGE-FEST Daran lässt sich eine weitere Frage anknüpfen, welche ein weiterer Betrug an den Ägyptern aufwirft. Während der gesamten Verhandlung zwischen Pharao und Mosche um die Freilassung der Sklaven spricht Letzterer immer wieder nur von der Forderung, die Israeliten bloß zu einem dreitägigen Dienstfest für G’tt in die Wüste zu entlassen.
Diese Forderung steht so sehr im Zentrum der Verhandlungen, dass sie an manchen Stellen während der Zehn Plagen en détail weiter diskutiert wird, etwa als Pharao vorschlägt, G’tt statt in der Wüste nahe Ägypten zu dienen (8,21), oder als er sich bereit zeigt, die Männer ziehen zu lassen, nicht aber die Frauen und Kinder, da diese zum Dienst vor G’tt nicht notwendig seien (10, 9–11), oder das Vieh zurückhalten möchte, worauf Mosche kontert, dass alles Vieh gebraucht werde, da die Opfergaben noch nicht definiert seien (25–26).
Vom ersten Kontakt an rund um die Freilassung der Sklaven bis zum tatsächlichen Auszug bekommt Pharao von Mosche kein einziges Mal etwas anderes zu hören, als dass sie für ein dreitägiges Fest in die Wüste wollen, in stringenter Kohärenz (5, 1–3; 7,16; 8, 21–24; 9,13; 10,3; 10, 7–11; 10, 24–26).
ziel Hatte Mosche denn tatsächlich vor, die Israeliten nur zu einem dreitägigen Fest in die Wüste zu führen? Mitnichten. Ausdrücklich spricht er vor ihnen mehrfach vom wirklichen Ziel: auszuziehen, um ins Gelobte und den Vorvätern versprochene Land zurückzukehren.
Wie etwa anhand der großartigen Vision, verkündet noch in tiefer Fronarbeit in Ägypten, zu welcher wir jeden Sederabend vier Gläser Wein für die vier Ausdrücke der Erlösung erheben und ein fünftes Glas – »des Propheten Elijahu« – eingießen, in Erinnerung an den fünften Ausdruck: »wehewejti« – Ich werde euch ins Land bringen … und es euch zum Erbbesitz geben« (6, 6–9). Hat Mosche also Pharao angelogen, hintergangen?
Hat Mosche also Pharao angelogen, hintergangen? Nein. Es war G’tt!
Nein. Es war G’tt! G’tt gab Mosche genau diesen Auftrag am brennenden Dornbusch, sogar unmittelbar hintereinander: den Israeliten zu verheißen, dass sie nun ins Land der Vorväter zurückkehren würden (3, 16–17), und im direkt anschließenden Satz zu Pharao zu gehen und ihn aufzufordern, dieselben Israeliten zu einem dreitägigen Fest in der Wüste freizustellen! Wie konnte Er nur? Er, der Allmächtige, dessen Eigenschaft die Geradlinigkeit (5. Buch Mose 32,4) und dessen Siegel die Wahrheit ist (babylonischer Talmud Schabbat 55a)?
kommentatoren Mit diesen schwerwiegenden Fragen befassen sich die Kommentatoren und bringen interessante Ansätze, um G’ttes Vorgehen zu erklären und gewissermaßen zu »rechtfertigen«. Unter ihnen finden sich auch manch spitzfindige Antworten, wie etwa diejenige Rabbi Abraham Ibn Esras: G’tt forderte Pharao auf, das Volk für drei Tage ziehen zu lassen – von Rückkehr danach war nicht die Rede!
Oder Don Jizchak Abarbanel, welcher die Forderung mit der Allwissenheit G’ttes in Verbindung bringt: G’tt wusste natürlich, dass Pharao nicht einwilligen wird, und wollte mit dieser minimalen Forderung von gerade einmal drei Tagen (sollte doch jedem Arbeitgeber zuzumuten sein) aufzeigen, wie gering, ja komplett inexistent Pharaos Bereitschaft zum Entgegenkommen ausfiel.
Andere sehen dies als Teil der Verhandlungspolitik G’ttes: Wenn Pharao von Anfang an mit Hinterlist vorgeht (2. Buch Mose 1,10), soll ihm mit gleichem Maß begegnet werden. Oder aber diese Forderung hätte einer ersten Phase entsprechen können: Wenn Pharao bereit gewesen wäre, den Sklaven drei Tage zu gewähren, wären diese danach zurückgekommen und die Verhandlungen um mehr, bis hin zur totalen Befreiung, hätten sich schrittweise fortgesetzt – so erklärt es Nechama Leibowitz.
schwächen Es scheint jedoch, dass der »Ran«, Rabbenu Nissim von Gerona, einen etwas weiteren Horizont für das spezielle Vorgehen entwickelt, worin sich G’ttes Größe und »Weitsichtigkeit« gerade im Umgang mit menschlichen Schwächen besonders zeigt (Draschot HaRan 11, ähnlich auch Sforno 2. Buch Mose 11,2 sowie Or Hachaim Hakadosch 2. Buch Mose 3,22).
Er verbindet die beiden Fragen – bezüglich des Ausleihens der ägyptischen Wertgegenstände (das auch schon von G’tt am Dornbusch angeordnet wurde: 3,22) und der Drei-Tage-Forderung – miteinander und führt sie zu einer Antwort hin: G’tt wollte, dass Pharao einen Grund haben würde, den Israeliten auch nach dem Auszug nachzujagen. Er sollte es sich und den Ägyptern rechtfertigen können, sie zurückholen zu wollen, obschon er ihnen selbst ausdrücklich gerade erst erlaubte zu gehen.
Weshalb sollte G’tt von Anfang an, seit der ersten Mission Mosches am Dornbusch, eine solche weit vorausliegende Konsequenz mit aller Komplexität vorausplanen?
Wie sonst wäre er nach so kurzer Zeit auf die Idee gekommen, sie zu verfolgen, und die Ägypter ihm in diesem Wahnsinn gefolgt, wo doch gerade ihre gesamte Welt durch die Zehn Plagen total aus den Fugen geriet und zusammenbrach und sie die Kinder Israels eben noch zum Auszug drängten? Einzig die schon immer da gewesene Annahme, sie würden nur für drei Tage davonziehen und danach wieder zurückkommen (auch wenn es angesichts des totalen Auszuges des Volkes unter feierlichem Banner wohl eher eine absurde Annahme war), bestärkt durch die ausgeliehenen Besitztümer, die zurückerwartet wurden, konnte die Ägypter dazu veranlassen, die soeben Befreiten zu verfolgen.
neuigkeit Nur so lässt sich erklären, warum es heißt, dass Pharao nach dem Auszug erzählt wurde, das Volk sei geflohen (2. Buch Mose 14, 5), als ob dies für ihn eine große Neuigkeit sei, wo er sie doch selbst geschickt hat. Denn bisher entließ er sie, um bald wieder zurückzukommen, nun aber, nach drei Tagen, wurde ihm hinterbracht und er sich gewahr, dass sie nicht daran dachten, zurückzukehren. Das ist auch gemeint, wenn G’tt davon spricht, Pharaos Herz zu verhärten, sodass er sich entschließe, dem Volk nachzujagen (14,4; 14,8): G’tt verhärtete ihm schon vorbereitend das Herz, indem Er ihm Grund und Rechtfertigung für eine solche Entscheidung gibt und Freiraum für einen grandiosen Irrtum gewährt.
Und wozu das Ganze? Weshalb sollte G’tt von Anfang an, seit der ersten Mission Mosches am Dornbusch, eine solche weit vorausliegende Konsequenz mit aller Komplexität vorausplanen? Um auf Pfaden menschlichen psychologischen Verhaltens die Ägypter zum Schilfmeer zu bringen und die Spaltung des Schilfmeeres herbeizuführen. Denn erst da – als die Macht der Ägypter nun auch in Form der furchterregenden weltstärksten Armee vor den Augen der ehemaligen Sklaven gebrochen und leblos am Ufer dalag (dort 14,30) – wurden die Israeliten zu einem wirklich freien Volk und der Auszug war vollendet … am siebten Tag Pessach, mit dem das siebentägige Fest einen weiteren Höhepunkt findet und als Feiertag endet.
Der Autor ist Oberrabbiner der Israelitischen Kultusgemeinde Wien.