Wir leben in einer Generation, in der das Verlangen nach Spiritualität stark ausgeprägt ist und sich in allen möglichen Richtungen wiederfinden lässt. Die einen suchen ihre spirituelle Erfüllung in der Kabbala, andere in fernöstlichen Lehren, verschiedenen Formen der Meditation oder auf Reisen durch unberührte Natur.
In unserem Wochenabschnitt schließt sich mit der Errichtung des Stiftszelts ein Kreis. Als Heiligtum in der Wüste wird es zum spirituellen Zentrum des Volkes. Worin unterscheidet sich diese Form der Spiritualität von anderen, und worum geht es dabei?
Irrtum Der Drang nach Spiritualität ist nichts Neues in der Menschheitsgeschichte. Die Suche nach Überirdischem, Transzendentem und nach G’tt ist vermutlich so alt wie die Menschheit selbst. Dies manifestierte sich schon in frühester Zeit. So beschreibt Maimonides, wie diese Suche schon kurze Zeit nach der Erschaffung des Menschen zum Götzendienst führte: »Und dies war ihr Irrtum, sie sagten: Weil doch der Allmächtige die Gestirne und Himmelskörper erschuf, um die Welt zu leiten, hat Er ihnen Ehre zuteil werden lassen, und sie sind Diener, die vor Ihm dienen. Also sollten sie gerühmt, gepriesen und ihnen Ehre zuteil werden« (Hilchot Awoda Sara 1,1).
Ein ähnlicher Ansatz ergibt sich beim Goldenen Kalb. Auch dort drängt sich die Frage auf: Wie kann es sein, dass ein Volk, dem sich G’tt offenbarte, kaum 40 Tage später einem Goldenen Kalb zuwendet und es anbetet? Hat die Offenbarung G’ttes denn nicht jegliche Form des Götzendienstes unvorstellbar werden lassen?
Rabbi Jehuda Halevi erklärt dies in seinem Werk Kusari (I. 97) folgendermaßen: Diese Sünde entsprang hauptsächlich einem »technischen Problem der menschlichen Begrenzung«. Um G’tt zu dienen, sei der Mensch auf einen Punkt angewiesen, an dem er sich orientieren und auf den er seine Gedanken richten kann. Besonders beim Beten wird dieses Problem deutlich in dem Versuch, die Gebete an die g’ttliche Adresse zu richten.
Denn G’tt entzieht Sich in Seinem Wesen dem menschlichen Vorstellungsvermögen. Seine Körperlosigkeit, Unendlichkeit und absolute Vollkommenheit ist für den Menschen in seiner ihn umgebenden materiellen, endlichen und von Relativität geprägten Welt weder begreiflich noch greifbar. So ist er darauf angewiesen, G’tt auf dem Weg der Negierung zu erfassen. Zum Beispiel: »G’tt lebt« ist nicht Ausdruck dafür, dass Er atmet und ein biologischer Stoffwechsel in Ihm vorgeht, sondern lediglich die Negierung dessen, dass Er etwa »tot« oder nicht vorhanden sein könnte. Auch die Ewigkeit G’ttes bezeichnet für uns hauptsächlich den Umstand, dass Er weder erschaffen wurde, noch ein Ende hat.
Medium Dieses menschliche Problem war Ursprung des Goldenen Kalbs, denn dem jüdischen Volk fehlte ein fassbarer Gegenstand, durch den es sich an G’tt wenden konnte. Diesen fanden sie im Goldenen Kalb. Keineswegs aber leugneten sie G’ttes Existenz oder vertauschten Ihn mit anderen Göttern, wie oft angenommen wird. Das Goldene Kalb war das Medium, um den Weg zu dem einen G’tt zu finden, den sie im Auszug aus Ägypten und am Berg Sinai erkannt hatten.
So gesehen, erscheint die Sünde des Goldenen Kalbs eher harmlos. Wieso wollte G’tt das gesamte Volk, Mosche ausgenommen, deswegen vernichten (2. Buch Moses 32,10)? Anhand des Goldenen Kalbs bewies das jüdische Volk, dass es den Sinn und das eigentliche Ziel der Offenbarung G’ttes am Berg Sinai nicht begriffen hatte. Dadurch beraubte es sich seiner besonderen historischen Aufgabe und seiner Existenzgrundlage. Was war das Ziel dieser Offenbarung?
Der Kusari wird mit einem zentralen Satz eingeleitet, der zuerst dem König der Chasaren im Traum übermittelt wird und sich dann wie ein roter Faden durch das ganze Werk zieht: »Deine Absichten finden Gefallen (in den Augen G’ttes), nicht aber deine Taten!« Dieser Satz drückt gleichzeitig den Sinn und die fundamentale Botschaft der Offenbarung G’ttes am Berg Sinai aus.
Der Mensch kann sich keine Vorstellung von G’tt machen, doch verspürt er das Bedürfnis nach Spiritualität. Der Ewige lenkt dieses Verlangen in die Ihm gefälligen Bahnen, indem Er Sich dem Menschen offenbart und ihm den Weg weist. Mit diesem Ereignis, das die Menschheit verändert, zeigt G’tt seinen Geschöpfen, wie aus den reinen Absichten auch reine, g’ttgewollte Taten werden.
Ignoranz Die g’ttliche Antwort auf das Goldene Kalb war das Stiftszelt. Was die beiden verband, war der menschliche Wunsch, einen Anhaltspunkt zu haben, der vorstellbar und mit den Sinnen zu erfassen ist. Der wesentliche Unterschied zwischen den beiden bestand darin, dass das Goldene Kalb der vom jüdischen Volk selbst erfundene Weg war. Er ignorierte die g’ttlichen Vorgaben der Tora nicht nur, sondern widersprach ihnen auch direkt. Denn es handelte sich dabei um einen Verstoß gegen das Bilderverbot. Dieser Weg war nicht g’ttgefällig, er diente nur dem menschlichen Bedürfnis und erklärte die Offenbarung G’ttes am Berg Sinai beinahe für ungültig und ungeschehen.
Das Stiftszelt hingegen war g’ttgefällig und wurde bis ins letzte Detail getreu nach g’ttlicher Anleitung erstellt. Wir lesen in unserem Wochenabschnitt 19 Mal, dass es genauso errichtet wurde, wie G’tt es Mosche befohlen hatte. Dieser Weg entsprach also in jedem einzelnen Schritt dem Willen G’ttes. Dies macht den wahren G’ttesdienst aus und zeigt, dass es einen wesentlichen Unterschied gibt zwischen Stiftszelt und Goldenem Kalb.
Der Autor ist Rabbiner der Synagogen-Gemeinde Köln.