War er ein »Versager« oder eine »Lichtgestalt«? An Papst Pius XII., der während der Schoa amtierte, scheiden sich bis heute die Geister. Pius XII., der mit bürgerlichem Namen Eugenio Pacelli hieß, wurde 1876 geboren und war vom 2. März 1939 bis zu seinem Tod am 9. Oktober 1958 Oberhaupt der katholischen Kirche.
Der Historiker Johannes Heil, Professor an der Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg, kennt die gegensätzlichen Einschätzungen: »Der Papst, der geschwiegen hat, sagen die einen – dass der Heilige Stuhl während des Krieges über keine gesicherten Informationen zum Genozid am europäischen Judentum verfügt habe, die anderen.«
Deportationszüge Einige betonten, bis zu 4500 Juden seien im Schutz der Kirche gerettet worden, andere wiesen wiederum auf die ungehindert aus Rom abfahrenden Deportationszüge hin.
Womöglich könnten demnächst neue Erkenntnisse helfen, das Agieren Pius’ XII. nicht nur während der Schoa präziser zu bewerten. Einige Jahre früher als üblich werden am 2. März die Vatikanischen Geheimarchive aus seinem Pontifikat Forschern zugänglich gemacht.
Den Erwartungen an die Archivöffnung widmete sich am Montag ein Vortrags- und Gesprächsabend der Deutschen Bischofskonferenz und des Zentralrats der Juden in Deutschland. Im voll besetzten Großen Saal des Frankfurter Hauses am Dom diskutierten Zentralratspräsident Josef Schuster, der Erfurter Bischof Ulrich Neymeyr sowie die Historiker Johannes Heil und Hubert Wolf.
Die Journalistin Elisabeth Zoll moderierte den Abend. Unter den Anwesenden waren die orthodoxen Rabbiner Jehoschua Ahrens, Avichai Apel und Julian-Chaim Soussan.
Dimension In seinem Impulsvortrag machte Wolf, Professor für Mittlere und Neuere Kirchengeschichte an der Universität Münster, auf die Dimensionen der Archivbestände aufmerksam. Mehr als 200.000 Schachteln, Boxen und Mappen von jeweils bis zu 1000 Blatt Umfang würden allein im Vatikanischen Geheimarchiv zugänglich. Darüber hinaus würden viele weitere Bestände geöffnet.
Der Kirchenhistoriker Hubert Wolf fordert, das Seligsprechungsverfahren für Pius XII. zu stoppen.
Wolf erinnerte überdies an die Debatte um Rolf Hochhuths 1963 erschienenes Theaterstück Der Stellvertreter. Es sei eine einzige Anklage gegen Pius XII. gewesen. Bis dahin habe er vielen katholischen Gläubigen als »Engelspapst« gegolten. Pius XII. sei zudem auch von Nichtkatholiken respektiert worden.
Mit seinem Stück habe Hochhuth einen Mythos erschüttert: »Die Vorstellung, dass ausgerechnet der Stellvertreter Jesu Christi auf Erden angesichts der schlimmsten Verbrechen der Menschheitsgeschichte versagt haben könnte, erschütterte das Selbstverständnis der Institution Katholische Kirche zutiefst.«
Das seit 1965 laufende Seligsprechungsverfahren für Pius XII. sollte, so Wolf, bis zur gründlichen Auswertung der bald neu zugänglichen Archivbestände gestoppt werden: »Das verlangt der Respekt vor unseren jüdischen Freunden.« Bei der Podiumsdiskussion betonte auch Josef Schuster die Problematik des Seligsprechungsverfahrens.
Mit den heutigen Erkenntnissen sehe er das Verfahren von jüdischer Seite kritisch. Für Schoa-Überlebende seien die Öffnung der Archive und deren Ergebnisse nicht entscheidend, betonte Schuster. Wichtig sei die Tatsache, dass die Seligsprechung Pius’ XII. immer noch im Raum stehe.
In der Archivöffnung sieht der Zentralratspräsident eine Möglichkeit, das Wirken dieses Papstes objektiv darzustellen und gegebenenfalls Konsequenzen oder auch positive Folgen für den Seligsprechungsprozess zu ziehen.
Hubert Wolf wird wesentlich an der Aufarbeitung des Archivmaterials beteiligt sein. Nicht nur die umstrittene Zurückhaltung Pius’ XII. während der Schoa sieht er als Schwerpunkt der bald beginnenden Forschungsarbeit. »Zentral für die Bewertung des Pontifikats von Pius XII. ist auch die Fluchthilfe für ehemalige SS- und Wehrmachtsangehörige, unter ihnen Adolf Eichmann«, sagt Wolf.
»Rattenlinie« Nach wie vor sei nicht klar, was Pius XII. wann von dieser Fluchthilfe, der sogenannten Rattenlinie, gewusst hat. Auch sein Verhältnis zum Staat Israel sei von hohem Interesse. »Lehnte Pius XII. den Zionismus grundsätzlich ab?«, fragte Wolf in seinem Vortrag. Er hob die Zusammenarbeit mit der Heidelberger Hochschule für Jüdische Studien und den engen Kontakt zum Zentralrat der Juden in Deutschland hervor.
Dass katholische, jüdische und jüdisch geprägte Historiker gemeinsam an der Auswertung der Archivbestände arbeiten würden, wertete auch Josef Schuster als einen »ganz wichtigen Schritt«, der Vertrauen in die Forschungsergebnisse fördere.
Bischof Ulrich Neymeyr sieht in der Archivöffnung eine »wichtige, vertrauensbildende Maßnahme den Juden gegenüber«. »Die Öffnung der Vatikanischen Archive ist ein großer Fortschritt«, betonte auch Johannes Heil. Die Erträge würden die Diskussion nicht beenden, aber sie würden sie auf eine fundiertere Basis stellen.
Hubert Wolf warnte indes vor der Einschätzung, die Auswertung der Archive aus dem Pontifikat Pius’ XII. werde nichts Neues zutage fördern. So sei bei der Untersuchung der Akten von Papst Pius XI., der von 1922 bis 1939 amtierte, vieles herausgekommen.
Edith Stein Beispielhaft verwies Wolf auf einen Brief der katholisch getauften Jüdin Edith Stein an den Papst aus dem Jahr 1933. Stein schilderte darin hellsichtig und präzise die aggressive judenfeindliche Politik des NS-Regimes. In seinem Antwortschreiben ging Pius XI., der Vorgänger von Pius XII., überhaupt nicht darauf ein.
Wolf plädiert für eine langsame und sorgfältige Auswertung der Archivbestände. Nach etwa sechs Wochen erhofft er sich zumindest eine erste Einschätzung, zu welchen Themenkomplexen Material vorhanden sei.