Was es im Allgemeinen zu Beachten gibt
Neben dem Verzicht auf Essen und Trinken enthält man sich an Jom Kippur auch des Badens und Salbens sowie der ehelichen Zweisamkeit. Außerdem trägt man keine Lederschuhe. Viele kleiden sich in Weiß. Die Farbe repräsentiert Unschuld, Reinheit und Vergebung der Sünden. Bei allen Gebeten wird von Männern der Tallit (Gebetsschal) getragen. Dieser sollte vorzugsweise bereits vor Sonnenuntergang mit dem entsprechenden Segen angelegt werden.
Während Jom Kippur wird im Gegensatz zu allen anderen Tagen der zweite Vers des Schema Israel, »Baruch Schem« – »Gesegnet sei der Name der Herrlichkeit Deiner Königsherrschaft für immer und ewig« –, laut verkündet. Das ganze Jahr über wird dieser Segen mit gedämpfter Stimme gesprochen, da er den Engeln »gestohlen« wurde. An Jom Kippur werden wir jedoch mit Engeln verglichen, sodass auch wir ihn wie die Engel, nämlich laut sprechen können.
Die besondere Amida an Jom Kippur beinhaltet ein langes Sündenbekenntnis. Dieses Bekenntnis wird still vorgetragen. Bei jeder Sünde, die wir bekennen, klopfen wir uns leicht mit der Faust auf die Brust – den Sitz des Herzens, den Sitz unserer Leidenschaften, Triebe und Impulse. Das Bekenntnis wird später, nach der Amida, während aller Gebete des Tages wiederholt, mit Ausnahme des abschließenden Neila-Gebetes
Das erste Gebet beginnt schon vor Sonnenuntergang
Vor Sonnenuntergang zünden Frauen und Mädchen Feiertagskerzen. Noch vor dem Beginn des gemeinsamen Gebets wird von vielen leise die Tefilla Zakka rezitiert. Dieses Gebet spricht man, damit man die Meinung erfüllt, dass das Vidui, das Sündenbekenntnis, unmittelbar vor Jom Kippur gesprochen werden sollte. Neben der Beichte enthält es ein bewegendes Gebet, das G’tt darum bittet, uns die Kraft für das Fasten zu geben und würdig zu sein, vollständige Vergebung zu erlangen. Ein weiteres wichtiges Merkmal ist ein Abschnitt, in dem man allen Menschen gegenüber, die gegen einen gesündigt haben, seine Vergebung ausdrückt. Entsprechend bittet man auch darum, dass alle Menschen einem selbst vergeben sollen.
Vor dem Beginn des gemeinsamen Gebetes werden alle Torarollen zur Bima (Lesepult) gebracht und von den Betenden geküsst.
Nachdem der Vorbeter sowohl die himmlischen als auch die irdischen Gerichte um Erlaubnis gebeten hat, »mit den Übertretern zu beten«, beginnt der Kantor das berühmte Kol Nidre. Er singt es dreimal, jedes Mal auf einer etwas höheren Note. Die Gemeinde liest mit gedämpfter Stimme mit. Einer Auslegung zufolge werden Gelübde, die im vergangenen Jahr abgelegt wurden, damit aufgehoben. Einer anderen nach handelt es sich dabei um eine Erklärung, dass alle zukünftigen Gelübde von Anfang an null und nichtig sind. Diese Erklärung muss von jedem Einzelnen gemeinsam mit dem Chasan und der Gemeinde laut ausgesprochen werden. Da die Aufhebung nur dann gültig ist, wenn man ihre Bedeutung versteht, sollte man den Text von Kol Nidre verstehen und gegebenenfalls vorher die Übersetzung studieren.
Dann folgen einige kurze Verse und Gebete, die im Schehechejanu-Segen gipfeln, in dem wir G’tt dafür danken, dass er »uns Leben geschenkt, uns erhalten und uns ermöglicht hat, diesen Anlass zu erreichen«. Diejenigen, die diesen Segen bereits nach dem Anzünden der Festkerzen gesprochen haben, lassen ihn aus.
Ein klassischer Start: Maariv
Danach beginnt der eigentliche Abendg’ttesdienst, Maariv. Nach der Amida werden unter anderem Verse rezitiert, die auf G’ttes dreizehn Attribute des Mitgefühls anspielen: »G’tt, G’tt, gütiger G’tt, mitfühlend und gnädig, langsam zum Zorn und reich an Güte und Wahrheit. Er bewahrt Güte für zweitausend Generationen, vergibt Missetat, Übertretung und Sünde, und Er reinigt.« Nach etwa zwei bis zweieinhalb Stunden des ganzen Gebets geht man andächtig nach Hause.
Morgengebet: Ein besonderes Schacharit
Die gemeinsamen Morgen- und Mussaf-G’ttesdienste nehmen den Großteil des Tages ein und dauern ungefähr sechs Stunden. Der Morgen-G’ttesdienst folgt weitgehend der Reihenfolge der traditionellen Schabbat- und Feiertagsliturgie. Die besondere Jom-Kippur-Amida und das Bekenntnis werden rezitiert, gefolgt von Liedern und einigen besonderen Gebeten.
Aus dem Aron Hakodesch werden zwei Torarollen herausgenommen, aus denen wir über die Prozeduren des besonderen Jom-Kippur-G’ttesdienstes im Jerusalemer Tempel lesen. Die Haftara behandelt die Konzepte von Reue und Fasten, die Themen unseres höchsten Feiertags.
Auf die Toralesung folgt das Jiskor-Gebet. Darin flehen wir G’tt an, der Seelen unserer lieben Verstorbenen gütig zu gedenken. Traditionell verlassen alle, deren Eltern noch am Leben sind und die Jiskor nicht rezitieren, die Synagoge für die Dauer des kurzen Gebets.
Gleich im Anschluss: Mussaf
Auf das Morgengebet folgt traditionell unmittelbar der Mussaf-G’ttesdienst. Dessen herausragendstes Element ist die Avoda, eine ziemlich detaillierte Nacherzählung des Jom-Kippur-G’ttesdienstes im Tempel, dessen Höhepunkt der Eintritt des Hohepriesters in das Allerheiligste war. Im Verlauf der Avoda erzählen wir dreimal, wie der Hohepriester den Namen G’ttes, der sonst nicht ausgesprochen werden durfte, aussprach und die versammelten Juden sich infolgedessen auf den Boden warfen. Wenn wir diese Passagen erreichen, werfen wir uns ebenfalls auf die Hände und Knie nieder. Viele legen dafür ein Taschentuch oder andere Stoffe auf den Boden, denn das Niederwerfen auf Stein, so wie im Tempel, haben die Rabbiner verboten.
Die Avoda endet mit einer Reihe von Gebeten, in denen wir G’tt anflehen, den Tempeldienst mit der Ankunft des Messias wiederherzustellen. Wir erzählen auch die tragische Geschichte des kaltblütigen Mordes an den »Zehn Märtyrern« durch das römische Regime.
Kurzer Zwischenstopp: Mincha am Nachmittag
Mincha, das Nachmittagsgebet, wird eine oder eineinhalb Stunden vor Sonnenuntergang abgehalten. Der G’ttesdienst beginnt mit der Toralesung, die von der Reinheit des jüdischen Lebens spricht und uns davor warnt, uns an unmoralischen Praktiken (verbotene sexuelle Beziehungen) zu beteiligen. Als Haftara lesen wir das Buch Jona. Es geht um jenen Propheten, der von einem Wal verschluckt wurde, und enthält eine zeitgemäße Botschaft über die Wichtigkeit von Reue und Gebet. Auf die Jom-Kippur-Amida folgen dann einige kurze Gebete. Der gesamte Mincha-G’ttesdienst dauert ungefähr eine Stunde.
Neila als krönender Abschluss
Kurz vor Sonnenuntergang, in den letzten Stunden von Jom Kippur, erreichen wir den Höhepunkt des heiligsten Tages des Jahres und sprechen das Neila-Gebet. Neila bedeutet »Verschließen«. Die Tore des Himmels, die den ganzen Tag offen waren, schließen sich nun langsam. Der Heiligenschrein unterdessen bleibt während des gesamten Gebets geöffnet.
Die Neila-Amida ist etwas abgekürzt – sie enthält nicht die ausführliche Version des Sündenbekenntnisses. Auf die Amida folgt das Awinu Malkenu. Dann verkündet der Chasan nachdrücklich die Worte des Schma: »Höre, Israel, der Herr ist unser G’tt, der Herr ist einer!« Mit höchster Konzentration wiederholt die Gemeinde den Vers. Der Kantor rezitiert dann dreimal den Vers »Baruch Schem«, wieder gefolgt von der Gemeinde. Dies drückt unsere Hoffnung aus, dass Haschems Ruhm in der Welt zunehmend offenbart wird. Das dreimalige Rezitieren dieses Verses drückt die ewige Natur von Haschem aus, dass er immer existierte, jetzt existiert und in Zukunft immer existieren wird. Schließlich verkündet der Kantor mit aller Kraft siebenmal: »Haschem Hu Elokim«, »Der Herr ist G’tt!«, und wieder spricht ihm die Gemeinde nach. Das siebenmalige Rezitieren dieses Satzes spielt darauf an, dass wir die heilige Schechina, die Präsenz G’ttes, begleiten, wenn sie unsere Mitte verlässt und über die sieben Himmel aufsteigt.
Dann ertönt, inmitten des letzten Kaddischs, das Schofar, das Widderhorn – ein triumphaler, langer Ton, der das Ende des heiligen Tages ankündigt. Dabei sollte man Folgendes im Sinn haben: dass wir uns über den Sieg über Satan freuen. Dass es ein Zeichen für den Abschied der Schechina ist. Dass der Ton eine Mahnung ist, die am Jom Kippur getroffenen Vorsätze zu erfüllen, um die eigene Lebensweise zu verbessern und nicht in alte Gewohnheiten zurückzufallen.
Und schließlich soll der Ton in uns die Sehnsucht nach dem Tag wecken, an dem das große Schofar erklingt, um die Ankunft des Messias anzukündigen.
Darauf folgt die freudige Proklamation: »Leschana Haba bIruschalajim«, »Nächstes Jahr in Jerusalem!« In vielen Gemeinden wird der Satz von allen gesungen und dabei getanzt. Von vielen fällt auch eine Last ab: Wir haben diesen intensiven Tag überstanden.
Danach folgt das gewöhnliche Wochentagabendgebet (Maariw) und schließlich die Hawdala, die Trennung zwischen dem Feiertag und dem Wochentag, dem Heiligen und dem Profanen.
Viele Gemeinden haben den Brauch, nach dem Ausgang von Jom Kippur mit dem Bau der Sukka zu beginnen, um von einer Mizwa direkt zur nächsten überzugehen.