Im 2. Buch Mose 10,1 sagt Gott zu Mosche: »Bo el-Par’oh«. Das wird oft mit »Geh zum Pharao!« übersetzt, aber eigentlich heißt es: »Komm zum Pharao!«. Warum »Komm« und nicht »Geh«? Kann es sein, dass Gott selbst irgendwie beim Pharao ist, sein Herz beeinflusst und eine dramatische Szene inszeniert?
Im 2. Buch Mose 4, 22–23 befiehlt Gott Mosche, er solle dem Pharao sagen: »So spricht der Ewige: ›Mein erstgeborener Sohn ist Israel‹. Und Ich sage dir: ›Lass ihn gehen, damit er Mir dienen kann!‹.« Aber im vorangehenden Vers sagt Gott: »Ich werde sein Herz verhärten, und er wird das Volk nicht ziehen lassen.« Dann – fünf Mal – übt Gott selbst Einfluss auf Pharao aus, damit er das Volk nicht ziehen lässt: nach den Fröschen (8, 8–15), den Fliegen (8, 25–32), dem Hagel (9, 27–35) und nochmals nach der Diskussion mit seinen Beratern (10, 7–11), nach den Heuschrecken (19, 16–20) und nach der Finsternis (19, 24–29). Es ist ein Widerspruch und zugleich ein theologisches Rätsel.
Weltgeschichte Entweder man glaubt – oder man glaubt nicht. Wenn man glaubt, aber gelegentlich Zweifel hat, dann zählt das – meiner Meinung nach – noch als glauben. Hier ist die Frage nicht, ob es einen Gott gibt, sondern ob sich dieser Gott in die Weltgeschichte einmischt.
In unserem Wochenabschnitt wird davon berichtet, dass Gott Befehle gibt. Er sagt, Mosche solle mit dem Herrscher reden. Er soll nicht betteln, nicht mit ihm verhandeln, sondern von ihm verlangen: »Lass Mein Volk frei, damit sie Mir und nicht dir dienen!«
Gott spielt dann auf beiden Seiten und sorgt für eine Konfrontation, statt dass es zu einem Dialog oder zu Verhandlungen kommt. Es hat den Anschein, als wollte Gott diese Konfrontation. Er möchte alle ägyptischen Gottheiten – eine nach der anderen – besiegen und vernichten. Dafür braucht es entsprechende Gelegenheiten.
Der Satz »Gott hat uns aus der Sklaverei in Ägypten befreit« gehört zu den Grundlagen des Judentums. Wir sagen ihn im Gebet, singen, reden und erzählen davon. Im ersten der Zehn Gebote sagt der Ewige: »Ich bin der Gott, der euch befreit hat.« Es heißt, Gott kann – wenn Er will – in die Geschichte von Völkern eingreifen. Er kann Sein Volk retten, Er kann ganze Armeen vernichten.
Hier stellen sich theologische Fragen: Warum griff Gott damals ein und später nicht mehr? Lag es daran, dass die Juden die Gebote nicht richtig hielten? Liegt die Schuld bei uns? Ist Selbstkritik die Lösung des Rätsels? So war es häufig in unserer Geschichte: Die Propheten klagten über ein Volk, das nur Strafe verdient hatte. Und die Rabbinen meinten, dass innerjüdische Konflikte zur Zerstörung des Zweiten Tempels führten.
Angesichts späterer Katastrophen, Pogrome, Vertreibungen, Massaker und anderer Tragödien fragt man sich: Will sich Gott nicht einmischen, oder kann Er es nicht? Manche fragen sich gar: Gibt es Ihn überhaupt?
Manche Menschen, die anderen Religionen angehören, meinen, Gott habe sich von Israel abgewandt und liebt jetzt andere. Jahrhundertelang wurden auf diesem Niveau sogenannte theologische Dispute geführt.
Politik Schauen wir uns an, wie es in unserem Wochenabschnitt weitergeht. In Gottes Auftrag sagt Mosche zum Volk: »Und wenn der Ewige dich bringt in das Land der Kanaaniter, Hetiter, Emoriter, Chiwwiter und Jebussiter ...« (13,5). Man kann aus diesen Worten lesen: Gott wird dafür sorgen, dass die anderen Völker Platz machen, damit die Israeliten kommen können. Er wird sich, wenn man so will, in die Politik einmischen.
Im 5. Buch Mose 2,23 lesen wir davon, dass ein Volk, die Kaftoriter, ein anderes Volk, die Awwiten, aus Gaza vertrieben hat. So etwas ist im Laufe der Geschichte immer wieder geschehen. Völker müssen nicht ewig dort bleiben, wo sie waren. (Bisher haben die Vereinten Nationen die Kaftoren noch nicht verurteilt, und anders als im Falle Israels gab es weder sogenannte Hilfsflottillen noch eine Boykottkampagne für die armen Awwiten.)
Die Geschichte vom Auszug der Israeliten wird dann im Buch Jehoschua weitererzählt, auch wenn, aus welchen Gründen auch immer, dieses Buch nicht mehr zur Tora gehört. Der Gott, der die Hebräer aus Ägypten gerettet hat, wird dort Israel auch bei der Eroberung Kanaans beiseitestehen. Aber das Volk muss selbst dafür kämpfen. Zur Zeit, in dem unser Wochenabschnitt handelt, wissen das natürlich weder Gott noch Mosche, denn es wird noch 40 Jahre dauern, bis das Volk Israel das Land Kanaan betreten wird.
Gebet Im Jigdal-Hymnus singen wir, dass es seit Mosche keinen anderen gab, der so direkt von Angesicht zu Angesicht mit Gott gesprochen hat. Die Zeiten waren wirklich anders.
Was wollen wir heute von Gott? Viele von uns bitten Ihn im Gebet, Er solle sich in unsere gegenwärtigen Konflikte einmischen (natürlich auf unserer Seite!). In den Al-HaNissim-Gebeten für Chanukka und Purim gibt es das Konzept, dass Gott für Israel und gegen unsere Feinde streitet. Aber man fragt sich manchmal: Was tut Er gegen die Hamas? Gegen die Hisbollah? Gegen den IS?
Gott sagt zu Mosche: »Komm zum Pharao – verlange von ihm Freiheit für Mein geliebtes Volk!« Warum aber schickte Gott keinen Mosche, der das gleiche Hitler sagen sollte? Es gab Anfang der 40er-Jahre in Europa Flüsse voll Blut, der Himmel verfinsterte sich durch Rauch und Brände, es gab Typhus, verbrannte Felder und Hunger, getötete Tiere, es hagelte Granatsplitter, es gab überall reichliches Fressen für Fliegen – und nicht nur die Erstgeborenen wurden getötet.
Ja, man fragt sich: Warum schickte Gott keinen zweiten Mosche?
Der Autor ist Rabbiner der Jüdischen Liberalen Gemeinde »Or Chadasch« in Wien.
Inhalt
Der Wochenabschnitt Bo schildert die letzten Plagen, mit denen G’tt die Ägypter heimsucht: Das sind zunächst Heuschrecken und Dunkelheit, dann kündigen Mosche und Aharon die Tötung aller ägyptischen Erstgeborenen an. Doch das Herz des Pharaos bleibt weiter hart. Die Tora schildert die Vorbereitungen für das Pessachfest und beschreibt dann die letzte Plage: Alle Erstgeborenen Ägyptens sterben, doch die Kinder Israels bleiben verschont. Nun endlich lässt der Pharao die Israeliten ziehen. Zum Abschluss schildert der Wochenabschnitt erneut die Vorschriften für Pessach und die Pflicht zur Erinnerung an den Auszug aus Ägypten.
2. Buch Mose 10,1 – 13,16