Marion Ploch, eine 18-jährige Zahnarztassistentin, wurde nach einem Autounfall am 8. Oktober 1992 in der Universitätsklinik Nürnberg-Erlangen für hirntot erklärt. Sie war zu diesem Zeitpunkt in der 13. Woche schwanger. Die Vaterschaft war nicht bekannt, und die Eltern von Marion erklärten sich zunächst nicht bereit, das Kind, wenn es erst einmal auf die Welt gekommen sein sollte, gr0ßzuziehen.
Dennoch entschied die Ethikkommission des Krankenhauses, den Körper der toten Mutter zum Wohle des Kindes, das beim Autounfall im Leib der Mutter keine sichtbaren Schäden davongetragen hatte, mithilfe medizinischer Geräte weiter am Leben zu halten. Doch die Mutter bekam Fieber, am 16. November 1992 erfolgte ein Abort, und der Fötus starb.
psychologie Ist es in ethischer Hinsicht zu verantworten, den Körper einer klinisch toten Mutter am Leben zu erhalten, um auch das ungeborene Kind weiterleben zu lassen? Und was bedeutet es für einen Fötus, im Leib einer klinisch Toten heranzuwachsen? Laut Ludwig Janus, einem Geburtspsychologen, ist das Heranreifen in der Gebärmutter einer toten Mutter gleichzusetzen mit »Folter in Abgeschiedenheit«.
Nach Ansicht des damaligen Chefarztes der Erlanger Klinik, Johannes Scheele, hat hingegen das Recht des Ungeborenen auf Leben absoluten Vorrang gegenüber solchen Überlegungen. Bei den wenigen gleichartigen Fällen, die man kenne, sei festgestellt worden, »dass das Kind ganz normal zur Welt kommen und sich auch normal entwickeln kann«.
Vergleichbare Fälle hatte es zu diesem Zeitpunkt in den USA und England gegeben, offenbar einen in Deutschland. Medienberichten ist zu entnehmen, dass es bis dahin fünf Kinder gegeben haben soll, die lebend geboren wurden, nachdem der Hirntod ihrer Mütter festgestellt worden war. Das Leben dieser Kinder soll »ganz normal« verlaufen sein.
Doch in der Öffentlichkeit wurde das Experiment scharf kritisiert. Politiker sprachen vom »lebenden Brutkasten« und vom »Gebärkörper«. Die Grenzen des medizinisch-ethisch Erlaubten seien »weit überschritten« worden, schrieb der Journalist Martin Kroon in der niederländischen Zeitung »Trouw« vom 28. Oktober 1992.
Ich jedoch bin der Meinung, dass die Erlanger Ärzte richtig gehandelt haben – und diese Haltung leite ich aus der jüdischen Tradition ab. Vorab allerdings möchte ich bemerken, dass das Wort »Experiment« einen schalen Beigeschmack nicht nur in der nichtjüdisch-deutschen, sondern auch in der jüdischen Gesellschaft hat. Wir sind nach der Schoa und den verbrecherischen Menschenversuchen in Vernichtungslagern übersensibel gegenüber dem Wort »Experiment« geworden.
Nichtdestoweniger sollte im Fall des »Erlanger Babys« und in ähnlichen Fällen die Vernunft, die sich aus einer bibelgerechten Lebenseinstellung ableitet, das letzte Wort haben, gemäß dem 5. Buch Mose 30,19: »Das Leben und den Tod zeige Ich dir, den Segen und den Fluch; wähle das Leben!« Auch wenn medizinische Kunst manchmal ein Fluch zu sein scheint, ist dem Leben unter allen Umständen Priorität einzuräumen.
Experiment Außerdem stellt sich die Frage: Kann unser Fall überhaupt als medizinisches Experiment gelten? Es gibt verschiedene Bedeutungen des Wortes Experiment, aber im erweiterten Sinne ist dann die Rede von einem medizinischen Experiment, wenn man eine noch nicht zur Gänze erprobte Methode als letztes Mittel einsetzt, um einen Kranken zu heilen oder sein Leben zu retten. Experimente werfen bedeutende ethische Fragen auf, wenn der Mensch das Objekt der Versuche wird.
Wenn eine Versuchsperson während eines Experimentes ernsthaften körperlichen oder geistigen Gefahren ausgesetzt sein sollte, ist dies in ethischer Hinsicht unverantwortlich. Im Fall von Marion Ploch ging es jedoch nicht um einen klinischen Versuch oder um ein medizinisch-wissenschaftliches Experiment, sondern um ein therapeutisches Experiment zur Rettung des Lebens eines Kindes.
Der Arzt musste abwägen, ob er nichts unternehmen und den Embryo sterben lassen, oder ob er eine noch nicht überprüfte neue Behandlungsmethode anwenden sollte, die allerdings auch Gefahren für das Kind beinhalten kann.
Einwilligung Therapeutische Experimente im Interesse des Kindes gelten in der medizinischen Welt als annehmbar, wenn die Eltern ihre Einwilligung erteilt haben. Da Marion Ploch in ihre Lebenserhaltung nicht mehr einwilligen konnte, war stattdessen die Einwilligung ihrer Angehörigen nötig – die ihre Eltern auf Bitten der Ärzte schließlich auch erteilten.
Im Judentum finden wir keine eindeutigen Vorgaben zu der Frage, wie man ein Menschenleben zu bewerten hat. Laut Talmud ist auch ein Patient im Endstadium und selbst derjenige, der sich im Todeskampf befindet, in jeder Hinsicht als lebend zu betrachten. Zu Beginn des Lebens gilt prinzipiell dasselbe.
Die Philosophen Aristoteles und Thomas von Aquin sind gleichermaßen der Ansicht, dass die »Beseelung« einer Frucht nicht bereits bei der Empfängnis erfolgt, sondern erst nach drei oder vier Monaten der Schwangerschaft. Doch der jüdische Standpunkt in dieser Frage ist ein anderer. Denn der Talmud unterscheidet verschiedene Stadien in der Entwicklung eines Menschen: Während der ersten 40 Tage einer Schwangerschaft wird der Embryo schlicht als »maja bealma« – »nur etwas Wasser« – bezeichnet.
Auch nach dem 40. Tag der Schwangerschaft bis zur Geburt ist noch keine Rede von vollwertigem menschlichen Leben. Eindeutig schreibt der Talmud vor, dass das Leben einer Mutter während ihrer Schwangerschaft Vorrang hat vor dem Leben des Kindes.
Nach der Geburt besitzt das Kind den Status eines Menschen, doch erst zum Zeitpunkt der Barmizwa (mit 13 Jahren) gilt ein Jude als vollständiger Mensch. Jedoch wurden aus dieser Einteilung niemals praktische Schlussfolgerungen abgeleitet. Auch das geringste schon begonnene embryonale Leben wird durch die jüdische Tradition geschützt.
Nachmanides (1194–1270), Arzt und jüdischer Gelehrter, legte fest, dass die Schabbatgesetze übertreten werden dürfen, um Leben auch während der ersten 40 Tage einer Schwangerschaft zu erhalten beziehungsweise zu schützen. Im Talmud (Arachin 7a) sagt Rabbi Nachman im Namen von Schmuel, der ebenfalls Arzt war, wenn eine Frau während der Geburt verstirbt, dürfe man ihren Bauch aufschneiden, um den Fötus zu retten.
Steht dies im Widerspruch zur Ehrfurcht, die das Judentum für die sterblichen Überreste vorschreibt? Immer wieder wird in Israel von Unruhen rund um die Ausgrabungen an antiken Begräbnisstätten berichtet, weil um die Würde der Toten gefürchtet wird.
Ja, es besteht ein Widerspruch zwischen dem Gebot, die Würde der Toten zu wahren, und dem Schutz des ungeborenen Lebens im Körper einer toten Frau – doch Leben hat Vorrang vor Pietät. Nach dem jüdischen Gesetz ist es allerdings verboten, ohne zwingenden Grund den eigenen Körper der Wissenschaft zur Verfügung zu stellen, denn dies bedeutet eine Entweihung der sterblichen Überreste.
Auch einen Verstorbenen oder eine Verstorbene für Forschungszwecke freizugeben und somit die halachisch vorgeschriebene Beerdigung eines Körpers im Ganzen zu umgehen, ist nicht erlaubt. Die Kabbalisten sind der Meinung, dass die Seele darunter leidet, wenn sie mitansehen muss, wie der irdische Körper entehrt wird.
Doch im vorliegenden Fall geht es um eine Frage der Lebensrettung. All diese Verbote entfallen. Eine Mutter über den Tod hinaus weiter am Leben zu lassen, um das Kind zu retten, ist nicht verboten, im Gegenteil: Es ist geboten, das Leben über den Tod zu stellen.
Das Recht des ungeborenen Kindes auf Leben ist sicherlich nicht dem Recht auf menschenwürdiges Sterben untergeordnet. Doch im Falle von Marion Ploch geht es gar nicht um diese Frage, denn die 18-Jährige war bereits klinisch tot.
Auf die Frage, ob das Kind nach seiner Geburt oder im Lauf seines Lebens, bedingt durch die beängstigende, fast Science-Fiction-artige Situation psychische Folgeerscheinungen aufweisen wird, gibt es nach derzeitigem Stand der Forschung keine eindeutige Antwort.
Sicherheit In vergleichbaren Fällen gibt der Talmud folgende Entscheidungsregel vor: »Bari weschama, bari adif – Wir folgen dem, der die Situation sicher beurteilen kann!« Sicherheit heißt in diesem Fall, dass der Embryo am Leben gehalten werden kann. Ein möglicherweise schmerzliches Nachspiel in der Lebensgeschichte eines Kindes gilt dagegen nicht als gesicherte Erkenntnis. Aus talmudischer Perspektive fällt die Entscheidung für das Leben des Kindes also nicht schwer – und sie deckt sich völlig mit der Entscheidung des Chefarztes der Erlanger Klinik.
Der Autor ist Dajan beim Europäischen Beit Din und war Rabbiner der Niederlande. Er ist jetzt Oberrabbiner der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf.