Rosch Haschana ist der Tag des Posaunenschalls. »Und im siebenten Monat am Ersten des Monats sollt ihr heilige Versammlung haben; keine Arbeitsverrichtung sollt ihr tun; ein Tag des Posaunenschalls sei es euch«: So steht es in der Tora (4. Buch Mose 29,1). Unsere Weisen haben es zu einer religiösen Pflicht erklärt, einer Mizwa, am Neujahrstag die Töne des Widderhorns zu hören.
Rosch Haschana ist der Tag, an dem wir G’tt krönen. Wir sprechen von Melech in der Gegenwart, Malach in der Vergangenheit und Imloch in der Zukunft. Und wir beten zu unserem Vater, von dem wir wissen, dass er uns ständig begleitet und uns seine volle Aufmerksamkeit schenkt.
gericht Rosch Haschana ist zugleich der »Jom HaDin«, Tag des Gerichts. Es geht um unser Schicksal und das der gesamten Menschheit. In dieser besonderen Zeit soll uns der Ton des Schofars an die Ernsthaftigkeit dieser Situation erinnern und uns zur Teschuwa, zur Rückkehr zu G’tt, ermahnen. Der Prophet Amos (3,6) fragt: »Oder wird in die Posaune gestoßen in der Stadt, und das Volk sollte nicht erschrecken?«
Der Ton des Schofars wird in der Tora als »Terua« dreimal erwähnt. So haben unsere Weisen entschieden, dass drei verschiedene Klänge zu hören sein müssen. Daraus wurde im Lauf der Jahrhunderte die Tradition, Tekia, Shewarim und Terua zu unterscheiden. Und so folgte auch die Anweisung, dass mit drei Sätzen von je zehn Tönen die religiöse Pflicht erfüllt ist.
Der Ton des Schofars kann, neben dem Ruf zur Umkehr, zusätzlich noch etwas anderes vermitteln, etwas, was wir angesichts von Schlagzeilen zu Covid-19 und den tragischen Folgen der Pandemie in Israel und aller Welt dringend brauchen: Hoffnung.
Der ehemalige britische Oberrabbiner Jonathan Sacks hat die Hoffnung als einen der größten jüdischen Beiträge zur westlichen Zivilisation bezeichnet. Er nennt das Judentum »die Stimme der Hoffnung«. Während in Kulturen der Antike die Menschen höchstens glaubten, dass ihre Götter in Bezug auf ihre Existenz bestenfalls indifferent, im schlimmsten Falle bösartig waren, sehe die moderne Gesellschaft das menschliche Leben als Ergebnis von reinen Zufällen.
Der Ton des Schofars soll zur Umkehr, zur Teschuwa, mahnen.
Währenddessen sei sich das Judentum bewusst, so Rabbi Sacks, dass die Realität, die dem Universum zugrunde liege, »für unsere Gebete nicht taub, für unsere Bestrebungen nicht blind und für unsere Existenz nicht gleichgültig ist«. So wie Mosche dem Volk Israel versprochen hat, dass es auch nach dem schlimmsten Leid nicht verloren gehen wird, sei keine Niederlage endgültig, kein Exil endlos, keine Tragödie das letzte Wort der Geschichte.
Hatikwa In diesem Zusammenhang verweist Rabbi Sacks auf das Gedicht von Naphtali Herz Imber, das sich beinahe prophetisch mit den biblischen Worten verbunden habe und zum Text der israelischen Nationalhymne wurde: »Od lo avda tikvatenu«, unsere Hoffnung ist noch nicht verloren. Durch Hoffnung, so Rabbi Sacks weiter, überwinden die Menschen die Schwierigkeiten eines bestimmten Hier und Jetzt.
So, wie es König Schlomo in Kohelet (9,4) ausdrückte: »Wer irgend noch verbunden ist mit dem Lebendigen, hat Hoffnung.« Während der Zehn Tage der Umkehr werden wir an die Strafen erinnert, die Sünder erwarten, die keine Teschuwa machen.
Zugleich wird ein anderer Weg gezeigt. Der Ton des Schofars mahnt zur Umkehr. Während der Schofarklänge hören wir in der Rosch-Haschana-Liturgie auch diese Worte: »Führe uns mit Liedern nach Zion, Deiner Stadt, mit Liedern und nach Jerusalem, der Heimat Deines alten Tempels, mit immerwährender Freude!«
Es ist kein Zufall, dass die Nationalhymne des jüdischen Staates den Titel »Hatikwa« – Hoffnung – trägt. Der Schofar ist ein Symbol dieser Hoffnung. In diesem Sinne können wir einem glücklichen und gesunden neuen Jahr entgegensehen – voller Hoffnung.
Der Autor ist Rabbiner der Jüdischen Gemeinde Frankfurt/Main und ORD-
Vorstandsmitglied.