In unserer Schabbatlektüre lernen wir folgenden Toravers: »Wenn in eurer Mitte ein Weissager aufsteht oder einer, der Träume deutet, und dir ein Zeichen oder ein Wunder ankündigt, und das Zeichen oder das Wunder, die er dir gesagt hat, treffen ein, und wenn er dann sagt: ›Wir sollen fremden Götzen nachgehen, die du noch gar nicht kennst (...)‹ – so höre nicht auf die Worte jenes Weissagers (...), denn der Herr, euer G’tt, stellt euch auf die Probe« (5. Buch Mose 13, 2–4).
Diese verzagte Warnung, die Mosche kurz vor seinem Tod an das Volk richtet, wirft mehrere Fragen auf. Zunächst eine historische: Zur Zeit der Tora gab es noch keine Propheten unter den Israeliten, außer Mosche. Die Epoche der Propheten, in der auch einige falsche, verführende Persönlichkeiten mitmischten, ist auf eine spätere Zeit zu datieren. Mosche hatte sie offenbar vorausgeahnt.
Prophet Des Weiteren sollten wir klären, was sich im alten Israel hinter dem Begriff »Prophet« (hebräisch: »Nawi«) verbarg. Er war ein »Künder« oder »Rufer«, einer, der den Willen G’ttes verkünden und vermitteln sollte. Die Israeliten verstanden darunter eine Person, die eine transzendente, also auf übernatürlichem Wege gewonnene Information weitergeben konnte. Er war bestrebt, diese Botschaft so zu gestalten, dass jeder im Volk sie hören oder lesen konnte. Nüchtern bewertet, war der israelitische Prophet eine Art Dolmetscher der g’ttlichen Mitteilungen, die er wahrgenommen hatte.
Zur Vorgeschichte der Prophetie möchte ich auf eine Episode aus dem 2. Buch Mose verweisen: Als der Herr Mosche mit der Befreiung der Israeliten aus der Sklaverei Ägyptens beauftragte, weigerte sich dieser zunächst. Er berief sich unter anderem auf seinen Sprachfehler: Wie könne denn ein Stotterer die Botschaft des Allmächtigen dem Pharao überbringen? Da sagte der Herr zu Mosche: »Aharon, dein Bruder, soll dein Prophet sein!« Aharon war also in der Lage, die Botschaft des Herrn zu transformieren und sie dem Pharao zu vermitteln. Das war die Geburtsstunde des Nawi.
Als Prophet trug er die Verantwortung, das G’tteswort in authentischer Form in die Sprache der Menschen zu übertragen. Die wahren, echten Propheten (hebräisch: Newi’im) wurden in der Bibel von G’tt erwählt. Ihre Tätigkeit wurde durch die Berufung, die Erwählung legitimiert. Die Propheten verliehen der g’ttlichen Botschaft lediglich ihre Stimme. Nicht so die falschen Künder und Rufer, von denen im eingangs zitierten Toravers die Rede war.
Scharlatane Im siebten und sechsten Jahrhundert v.d.Z., zur Zeit des Propheten Jirmijahu, schien das Problem noch immer sehr akut gewesen zu sein, die wahren Künder von den Scharlatanen zu unterscheiden. Daher sprach Jirmijahu: »Hört nicht auf die Worte der Propheten, die euch weissagen! Sie narren euch nur. Ihres Herzens Schau künden sie und nicht aus dem Mund des Ewigen!« (23,16).
Warum fürchteten sich die Rufer des einzigen G’ttes vor den wenigen ekstatischen Fantasten inmitten der wahren Künder? Steckt dahinter vielleicht die Angst, den – bis heute – fatalen Versuchungen und Verführungen geschickter Blender zu erliegen?
Der deutsch-amerikanische Soziologe Leo Löwenthal befasst sich in seinem Buch Falsche Propheten. Studien zum Autoritarismus mit den Methoden und Techniken charismatischer Führer und ihren autoritären Handlungen. Der Autor vergleicht diese Weissager und Seher mit den biblischen Propheten: »Der Prophet ist ein charismatischer Führer, der damals nicht vom Volk durch eine demokratische Abstimmung gewählt wurde.«
Weiter schreibt Löwenthal: »Was aber unsere Propheten von den anderen orientalischen Wahrsagern unterscheidet, ist, dass sie das ›Sprachrohr‹ G’ttes sind und nichts anderes sagen als das, was ihnen G’tt in den Mund legt. Ihre Handlungen entsprechen auch nur den g’ttlichen Anweisungen. Der Status der Propheten ist in unserer Bibel jedoch niemals leicht und bequem.«
Dem Volk und dessen Spitze sei es nicht leichtgefallen, zu entscheiden, ob die – oftmals unbequemen – Verkündungen tatsächlich g’ttliche waren oder von den selbst ernannten »Sehern« stammten, die ihre Weissagungen vielleicht in krankhaftem Wahn verkündeten, so Löwenthal.
»Die Propheten Israels sind keine Wahrsager, sondern Mahner. Sie verkünden, was alles geschehen könnte, wenn sich das Verhalten des Volkes und seiner Führung auf dem Gebiet der Ethik oder der Politik nicht bessert.«
Traumdeuter In unserer Parascha erklärt uns die Tora (5. Buch Mose 13,2): Der Prophet oder Traumdeuter, der zur Verehrung fremder Götter aufruft, vermittelt nicht das Wort G’ttes. Aber können wir feststellen, ob der im Namen des Ewigen agierende Prophet echt oder falsch ist?
Der mittelalterliche Gelehrte Isaak ben Juda Abrabanel (1437–1508) meint, dass Mosche der größte Prophet Israels ist, da er der einzige Prophet bleibt, der G’tt aus nächster Nähe erleben durfte (2. Buch Mose 34,5 und 5. Buch Mose 5,5).
Einmalig ist Mosche aufgrund seiner »Online-Kommunikation« mit G’tt: »Lo kam beJisrael keMosche od Nawi uMabit et Temunato.« So hat auch der Rambam, Maimonides (1138–1204), die Aussage, dass Mosche allen anderen Propheten überlegen ist, in seine 13 Glaubensartikel aufgenommen, die wir im Morgengebet sprechen. Die Fähigkeit zur Unterscheidung zwischen wahren und unechten Inhalten soll durch das Studium der Tora gefördert werden.
Der Midrasch, die exegetische Literatur, bewahrte für uns den Dialog zweier Talmudgelehrter zu der quälenden Frage: Wie konnte der Ewige zulassen, dass ein heidnischer Wahrsager wie Bileam angeblich wahre Wunder bewirkte (4. Buch Mose 24, 5–9)?
Rabbi Josse Hagalili (aus dem 2. Jahrhundert n.d. Z.) meint, dass Bileam nur kurzfristig Erfolg hatte, und auch nur, um das G’ttesvolk zu versuchen. Rabbi Akiwa horchte auf: G’tt behüte! Sollte der Herr, der Allmächtige, einem Verführer auch nur für kurze Zeit übernatürliche Kräfte verliehen haben? Für die Frommen ein unvorstellbarer Gedanke!
Eher lag es für sie im Bereich des Möglichen, dass selbst ein ehrlicher Künder zum Abweichler im Dienste einer unredlichen Sache wird. Denn schließlich ist der Prophet auch nur ein Mensch, der nicht gegen die Versuchungen dieser Welt gefeit ist. Und gerade das macht ihn so menschlich.
Der Autor war von 1981 bis 2002 Landesrabbiner von Württemberg.
Paraschat Re’eh
Der Wochenabschnitt beginnt mit den Worten, die Mosche an das Volk richtet: »Siehe, ich lege heute vor euch Segen und Fluch!« Den Segen erhalten die Bnei Israel, wenn sie auf die Gebote G’ttes hören. Der Fluch wird über sie kommen, wenn sie sich nicht entsprechend verhalten und sich fremden Götzen zuwenden. Bei den nachfolgenden Ritualgesetzen geht es um die Errichtung eines zentralen Heiligtums, um Schlachtopfer, die Entrichtung des Zehnten (Ma’aser) und um die Erfüllung von Gelübden (Neder). Dann folgen die Speisegesetze, und zum Schluss werden die Regeln für das Schabbatjahr beschrieben und die Feiertage Pessach, Schawuot und Sukkot sowie die damit verbundenen Vorschriften erwähnt.
5. Buch Mose 11,26 – 16,17