Warum hat Gott die Schoa zugelassen? Eine Frage, die Theologen nicht beantworten können. Ohnehin ist Theologie reine Spekulation und wurde deswegen im klassischen Judentum kaum praktiziert. Denn Theologie bedeutet, Gottes Willen aus zweiter Hand zu deuten – ich nenne es »second guessing God«.
Statt dass der Gläubige liest, was Gott (so glaubt man) offenbart hat, statt die Wörter nochmals und nochmals zu überprüfen, zu analysieren und auszulegen, statt zwischen den Zeilen zu lesen und Midraschim zu schreiben, versuchen Theologen, durch die Ereignisse der Welt die Zeichen von Gottes Hand und Gottes Taten zu finden und Gottes Willen zu verstehen. Doch oft ist das sehr schwierig. Und es besteht immer die Gefahr, »Eisegese« statt »Exegese« zu betreiben: Statt den Text auszulegen, um zu verstehen, was er sagen will, liest man in einen Text hinein, was man selbst gerne darin sehen möchte. Ich nenne das Wunschdenken.
GRUNDLOS In unserer langen Tradition hatten wir Juden viele Anlässe, uns zu fragen, wie Gottes Wille und der Verlauf der Geschichte zusammenhängen könnten. Schon die Propheten haben uns gewarnt: Wenn Gott es so wolle, könne Gott sein Volk bestrafen. Auch das war als ein Teil des Bundes zu akzeptieren. Nach dem zweiten »Churban«, der Zerstörung des Jerusalemer Tempels im Jahr 70 nach der Zeitrechnung, suchten die Rabbiner nach Gründen für die Katastrophe und fanden ihn in »Ssinat Chinam«, in grundlosem Hass von Juden gegen Juden.
Und das bedeutet doch irgendwie: »Wir haben diesen Untergang verdient.« Ein berühmtes Beispiel findet sich im babylonischen Talmud, Gittin 56a, in der Geschichte von Kamtza und Bar Kamtza. Sie erzählt von einem reichen jüdischen Mann, der einen Freund namens Kamtza und einen Feind namens Bar Kamtza hatte. Jener Mann veranstaltete ein großes Festmahl und befahl seinem Diener, Kamtza einzuladen. Doch aus Versehen gelangte die Einladung an Bar Kamtza, der dachte, sein Feind wolle ihn um Vergebung bitten. Er nahm die Einladung gerne an. Aber als der Gastgeber Bar Kamtza auf seinem Fest bemerkte, forderte er ihn auf, sofort zu gehen.
Bar Kamtza fühlte sich gedemütigt, auch durch die anwesenden Rabbiner, die ihm nicht beistanden. In seiner Wut ging er zum römischen Kaiser und behauptete, die Juden planten einen Aufstand. Um seine Behauptung zu beweisen, empfahl er dem Kaiser, ein Tier zu wählen und zu prüfen, ob es im Tempel von Jerusalem als Opfer akzeptiert werde. Der Kaiser sandte eines seiner schönsten Kälber, aber Bar Kamtza zeichnete heimlich einen Makel auf das Tier. Das Kalb wurde in Jerusalem nicht akzeptiert. Als der Kaiser davon erfuhr, entbrannte sein Zorn, und er ließ den jüdischen Tempel zerstören. Alles nur wegen einer Beleidigung.
Märtyrer Leider gab es in unserer Geschichte viele Katastrophen. Man liest davon in den Kinot, den Klageliedern, die nach den Kreuzzügen durch das Rheinland entstanden sind, und in anderen Gedichten. Es handelt sich um »liturgische Reaktionen« auf historische Katastrophen. Ein bekanntes Beispiel findet sich im Siddur »Schma Kolenu« auf Seite 399. Im Morgengottesdienst am Schabbat und in den Jiskor-Gebeten wird Gott aufgefordert, er solle »der Frommen, der Geraden und der Vollkommenen, der heiligen Gemeinden, die ihr Leben zur Heiligung des göttlichen Namens hingaben« gedenken. Und nicht nur das: Gott soll »das vergossene Blut Seiner Diener« rächen.
Die Idee des »Kiddusch Haschem«, wobei Juden Gott und Gottes Namen heiligen, indem sie als Opfer hingeschlachtet werden, ist ohne Zweifel problematisch. Doch kann sie als Versuch gesehen werden, trotz allem etwas Positives in den historischen Tragödien der Juden zu finden. Die Idee beruht teilweise auf dem 3. Buch Mose 22,32 (»Entweiht nicht meinen Namen, denn ich will unter den Kindern Israels geheiligt werden. Ich bin der Ewige, der euch heiligt«). Allerdings hält Maimonides »freiwilliges Märtyrertum« nur unter unausweichlichen Umständen für relevant, etwa bei erzwungenem Inzest oder Götzendienst.
Es gibt Themen, bei denen man Schweigen für die einzige richtige Reaktion halten könnte. Und trotzdem muss man reden und schreiben – auch über Themen, über die es nichts »Vernünftiges« zu sagen gibt. Die Schoa (das Wort stammt aus Psalm 35,8) ist noch immer nicht so weit weg von uns. Einige Zeitzeugen leben noch, wenn es auch Jahr um Jahr weniger werden: Menschen, die vertrieben, entrechtet und deportiert wurden, die Konzentrations- und Vernichtungslager überlebt haben. Und Menschen, die es geschafft haben, Deutschland und Europa rechtzeitig zu verlassen, und die das Exil erfahren haben.
KIndertransporte An Pessach haben wir des Auszugs aus Ägypten gedacht und daran, wie wir befreit wurden. Aber kaum einer denkt an die Israeliten, die in der Zwischenzeit gelitten hatten. Mosche war schon 80 Jahre alt, als er von Pharao den Auszug seines Volkes verlangte. Das heißt, länger als 80 Jahre, schon vor Mosches Geburt, herrschten furchtbare Angst und Unterdrückung. Das Buch Exodus beschreibt, wie die Israeliten unter der brutalen Herrschaft des neuen Pharao weinten, der sie zu einer unerwünschten und bedrohlichen Minderheit erklärte und der eine Vernichtungspolitik gegen sie initiierte.
Hat Amram seinen Sohn je wieder gesehen? Oder Jocheved, nachdem sie Mosche für eine Weile noch stillen konnte? Die verzweifelten Eltern steckten ihr Kind, ihren Erstgeborenen, in eine kleine Kiste aufs Wasser. Es war eine Art Kindertransport: »Rettung durch das Abgeben des Kindes.« Genauso, wie es viele Eltern im 20. Jahrhundert versucht oder getan haben.
Wenn wir uns nicht nur auf den erfolgreichen Auszug aus Ägypten konzentrieren, sondern auch auf das Leid, st0ßen wir auf tiefgreifende theologische Probleme. Im 1. Buch Mose 15,13 kündigt Gott Awraham an, seine Nachkommen würden 400 Jahre lang einem fremden Volk dienen. Aber warum? Dazu sagt Gott nichts. Und Awraham fragt auch nicht nach. Der Pharao wiederum hatte sicherlich seine eigenen politischen Gründe, die Israeliten zum Sündenbock zu machen, und sie eigneten sich dafür sehr gut. Sogar in der Bedeutung des Wortes »Hebräer« liegt einer der Gründe. Es heißt »Die von dort drüben«, also »Ausländer«.
LEID Vor der Befreiung kam das Leid, und es dauerte generationenlang. Und wir wissen nicht, warum; die Tora schweigt auch dazu. Es war einfach so. Einige Denker haben versucht, etwas Verständliches in die Ereignisse der 30-er und 40-er Jahre hineinzuinterpretieren. Ich würde sagen, ohne Erfolg. Man kann das Leid beschreiben, die Namen aufzählen, aber nicht erklären, nicht rechtfertigen. Nicht wenn, wie Emil Fackenheim (1916–2003) schrieb, bis zu einem Drittel des jüdischen Volkes ermordet und die Zukunft des ganzen Volkes gefährdet wurde. Unter den Opfern waren Fromme, Assimilierte, Getaufte und auch idealistische Zionisten, die nicht rechtzeitig auswandern konnten. Und viele der Täter kamen ungestraft davon.
Wie kann man als Theologe erklären, dass die Juden nur wegen ihrer genetischen Abstammung und nicht wegen ihrer eigenen Gedanken und Taten verfolgt wurden? Was ist Gottes Plan, Gottes Absicht? Die Fragen der vergangenen Jahrzehnte lauteten daher: Wo war Gott? Hat Gott sich »versteckt« (5. Buch Mose 31,18)? Und wenn ja, warum? Kann der Mensch noch auf Gott vertrauen? Wozu haben wir Mizwot wie »Du sollst nicht morden«, wenn andere Völker solche Mizwot angeblich nicht haben oder nicht halten?
BRUCH? Die Idee des »Tzimtzum«, wonach Gott sich zurückzieht, um Platz für menschliche Freiheit zu schaffen, hilft nicht weiter. Es steht dem Menschen zwar frei, Böses zu tun. So könnte vielleicht erklärt werden, was die Täter getan haben. Die Theorie erklärt aber nicht, warum die Opfer Opfer sein mussten. Die große Frage, die sich mir stellt, ist doch: Will Gott noch Judentum haben? Ist der Bund, geschlossen zuerst mit Awraham und dann mit dem ganzen Volk der Israeliten durch Mosche und die Offenbarung am Sinai, gebrochen worden? Und zwar von Gott selbst und nicht nur, wie unsere Propheten selbstkritisch behaupteten, von den abtrünnigen Juden?
Ich persönlich sehe einen Unterschied zwischen denjenigen, die selbst Vertreibung und Lager erlitten haben, und denen, die entweder bequem im Ausland waren oder die, wie ich, später geboren wurden, und dem, was sie schreiben. Ich mache einen Unterschied zwischen dem Augenzeugen und dem Akademiker. Zwischen Opfer und Theologen. Für Juden, die sagen, sie haben die Verfolgung mit eigenen Augen gesehen, am eigenen Leib erlitten, und die nicht mehr an Gott glauben können – für solche Juden habe ich großen Respekt und Verständnis.
Ich sehe es nicht als meine Aufgabe an, jemandem zu erklären, warum seine Familie ermordet wurde. Das wäre kein Trost, das wäre fast ein Missbrauch des Namen Gottes und daher eine Verletzung des Gebotes im 2. Buch Mose 20,7. Aber wir Juden, die trotz allem doch Juden bleiben wollen, wir stehen vor vielen tiefen Fragen, auf die es (noch) keine klaren Antworten gibt. Das ist die Herausforderung von Jom Haschoa. Wir glauben an das Judentum. Trotz Gott und nicht wegen Gott. Dafka.
Der Autor ist Landesrabbiner von Schleswig-Holstein.