Für viele ist es ein großer Segen, wenn Rosch Haschana auf Schabbat und Sonntag fällt und damit auch die ersten beiden Feiertage des Sukkot-Festes sowie Schemini Azeret und Simchat Tora, die stets auf dieselben Wochentage fallen wie die beiden Rosch-Haschana-Tage. Denn so gehen für Selbstständige keine Arbeitstage verloren, und Arbeitnehmer müssen für diese Tage keine zusätzlichen Urlaubstage nehmen.
Für manche mag die Konstellation von Nachteil sein, vor allem für jene, die von ihrer Arbeit sowohl an jüdischen als auch an gesetzlichen Feiertagen freigestellt werden, oder für Schüler, die es lieber haben, wenn Feiertage nicht aufs Wochenende fallen, sondern auf Schultage.
unterschied Ein weiterer, nicht unwesentlicher Unterschied ergibt sich in kulinarischer Hinsicht. Wenn die Feiertage teilweise auf Schabbat fallen, dann sind die Schabbat- und Feiertagsmahlzeiten entsprechend kongruent.
Anders als bei Feiertagen während der Woche, wo nach wenigen Tagen (manchmal auch direkt im Anschluss) gleich wieder die Schabbatmahlzeiten anstehen – die zusätzlich zu organisieren, vorzubereiten und einzunehmen sind, und dies gleich drei Mal innerhalb von vier Wochen –, ergibt sich dieses Jahr eine Pause von fünf Tagen bis zum nächsten Schabbat und eine »Ersparnis« von insgesamt sechs feierlichen Mahlzeiten – eine spürbare Erleichterung für Aufwand, Geldbeutel und den Magen.
Der erste Tag von Rosch Haschana kann nicht auf Sonntag, Mittwoch oder Freitag fallen.
Unser Kalender folgt der Festlegung von Rabbi Hillel II. aus dem vierten Jahrhundert. Dieser legt unter anderem auch fest, dass der erste Tag Rosch Haschana nicht auf einen Sonntag, Mittwoch oder Freitag fallen kann, eine Regel, die sich unter der Abkürzung »(Lo) Adu Rosch« manifestierte (»A« für Alef, dessen Zahlenwert eins entspricht, »d« für Dalet, also vier, und »u« für Waw mit dem Zahlenwert sechs, parallel zur jeweiligen Position der drei Buchstaben im hebräischen Alphabet und den ersten, vierten und sechsten Wochentag andeutend).
Damit soll vermieden werden, dass Jom Kippur direkt an den Schabbat anschließt, also nicht auf Freitag oder Sonntag und Hoschana Rabba nicht auf Schabbat fällt. Es verbleiben folglich nur noch vier mögliche Wochentage für den ersten Tag Rosch Haschana, wovon einer der Schabbat ist.
FOLGE Eine weitere halachisch interessante Folge ergibt sich, wenn der erste Tag Rosch Haschana auf Schabbat fällt: Am Schabbat wird das Schofar nicht geblasen. Anders als in anderen Jahren sind die Schofartöne dieses Jahr nur am zweiten Tag und nicht an beiden Tagen des Festes zu hören. Besonders pikant ist dies aus folgendem Grund: Das einzige, spezifisch an Rosch Haschana zu erfüllende Tora-Gebot ist das Schofarblasen.
Obwohl mit den Gebeten, dem zu Tempelzeiten stattfindenden Opferdienst, mit dem Einhalten der Feiertagsgesetze weitere Tora-Gebote zu Rosch Haschana erfüllt werden, sind diese aber nicht spezifisch nur an Rosch Haschana relevant, sondern auch an anderen Feiertagen, und deshalb kein spezielles Charakteristikum dieses Tages.
Weitere Bräuche, die wir nur an Rosch Haschana kennen, wie bekanntlich Apfel mit Honig zu essen oder das Taschlich-Gebet, stammen nicht aus der Tora und haben nicht einmal den Status rabbinischer Gebote, es handelt sich vielmehr um populäres Brauchtum (das, wenn fundiert, einen eigenen wichtigen Stellenwert besitzt, jedoch nicht mit den vorgeschriebenen Geboten zu vergleichen ist). Deshalb befassen sich die vielen Halachot zu Rosch Haschana zu einem überwiegenden Teil mit den Vorschriften des Schofarblasens.
ursprung Des Weiteren ist zu bemerken, dass Rosch Haschana in der Tora nur an einem Tag stattfindet, dem 1. Tischri (3. Buch Mose 23,24). Wir sind gewohnt, zwei Tage Rosch Haschana zu feiern, einer Takkana (rabbinischen Einrichtung) folgend, die ihren Ursprung noch zu Tempelzeiten hatte und für die jüdische Gemeinschaft in ganz Israel und der Diaspora galt und gilt.
Wenn der erste Tag Rosch Haschana also auf Schabbat fällt und somit an diesem Tag das Schofar nicht geblasen wird, dann fällt in einem solchen Jahr auch die Mizwa des Schofarblasens vollkommen weg!
Es ist richtig, dass am zweiten Tag Rosch Haschana nach wie vor Schofar geblasen wird, jedoch ist dieser Tag von den Rabbinern angeordnet, womit das Tora-Gebot an ihm nicht mehr erfüllt werden kann. Wie kam es dazu, dieses Tora-Gebot ersatzlos zu streichen? Wer erkühnt, ja erdreistet sich, so etwas zu tun, und mit welcher Autorität?
ERINNERUNG Die Mischna (Rosch Haschana 4,1) erwähnt, dass außer im Tempel und vor dem Sanhedrin, dem Obersten Gerichtshof, am Schabbat nicht Schofar geblasen wird. Der Talmud zur Stelle (29b) befasst sich mit der Frage, warum. In einem ersten Ansatz gibt es den Hinweis aus den Sätzen der Tora selbst, da einmal vom »Tag des Schofarschalles«, an anderer Stelle jedoch von der »Erinnerung des Schofarschalles« die Rede ist. Hiermit wird angedeutet, dass es Tage gibt, an denen die Schofartöne tatsächlich zu hören sind, und andere, an denen sie nur als Erinnerung vorhanden sind, nämlich am Schabbat.
Der Talmud verwirft zwar diesen Ansatz wieder, doch soll er nicht umsonst erwähnt sein. Die Schlussfolgerung des Talmuds ist nicht weniger spannend: Die Rabbinen haben den Gebrauch des Schofars am Schabbat untersagt. Sie befürchteten, er könnte ansonsten ohne Rechtfertigung auf der Straße getragen werden – dies würde den Schabbat entweihen (da das Tragen von Gegenständen an öffentlichen Plätzen zu den verbotenen Tätigkeiten des Schabbats gehört)! Aus demselben Grund sind am Schabbat auch das Schütteln des Lulaw und die Lesung der Purim-Megilla untersagt.
Die Autorität, ein Tora-Gebot auszusetzen, haben die Weisen in passiver (»schew we’al taasse«), nicht aber in aktiver Form. Sie können also, unter Anführung gerechtfertigter Gründe, untersagen, ein Gebot zu erfüllen, augenscheinlich gegen die Anweisung der Tora, jedoch gilt das nicht für das aktive Übertreten von Tora-Verboten.
gebot Hierzu gibt es einiges zu ergänzen: In Wirklichkeit handelt es sich nicht um einen Widerspruch des »Willens der Tora« zum »Willen der Weisen«. Vielmehr sind die Weisen befugt (im vorgesehenen Rahmen der Halacha), den Willen der Tora (und somit den Willen G’ttes) zu deuten und zu verstehen, dass im gegebenen Fall die Tora das Aussetzen des Schofarblasens vorzieht, um das Gebot des Schabbats zu schützen. Hinweise darauf finden wir in den oben genannten Versen, die eine entsprechende Unterscheidung im Sinne der Tora bereits andeuten.
Darüber hinaus zeigt es die Priorisierung in der jüdischen Religion: Das Schofarblasen erweckt tiefe Emotionen und wirkt auf weite Kreise der jüdischen Gemeinschaft wie ein Magnet. Die Synagogen weltweit sind zu Rosch Haschana wesentlich stärker besucht als an gewöhnlichen Schabbatot. Dennoch setzen unsere Weisen ein klares Zeichen und stellen das Gebot des Schabbats über das des Schofarblasens.
Das Schofarblasen erweckt tiefe Emotionen und wirkt auf weite Kreise der jüdischen Gemeinschaft wie ein Magnet.
Auch wenn der Schabbat als bloße Routine erscheint, wöchentlich wiederkehrt und entsprechend nicht dieselben Emotionen und Seelenbewegungen erweckt wie das einmalige Schofarblasen, heißt dies noch lange nicht, dass dessen Bedeutung als weniger wichtig einzustufen ist. Selbst der Verdacht auf die mögliche Verletzung des Schabbats lässt das Gebot des Schofarblasens aussetzen!
identität Der Schabbat gehört zu den wichtigsten Bausteinen unserer jüdischen Identität, unserer Seele und unserer Beziehung zu G’tt und zur jüdischen Gemeinschaft und darf deshalb nicht vernachlässigt werden. Ganz allgemein hat die Routine – wie das tägliche Gebet, Schma, Tefillin, Schabbat, Kaschrut – einen viel stärkeren Einfluss auf die Bildung und Stärkung der jüdischen Identität als die einmaligen Erlebnisse, mögen sie auch noch so emotional sein!
Darauf aufbauend lässt sich im chassidischen Sinne ergänzen, dass auch im Wesen der Dinge kein wirklicher Widerspruch existiert. Mit dem Schofarblasen wird die Seele aufgerüttelt und angesprochen, mit Erinnerungen an ihr Wesen aus Vergangenheit und Zukunft verbunden (wie etwa die Offenbarung G’ttes am Berg Sinai unter Schofarklängen, die Bindung des Vorvaters Jizchak oder die künftige Erlösung) und Gʼtt als König und Schöpfer der Welt verkündet. Dies alles geschieht beim Schofarblasen binnen weniger Minuten.
Der Schabbat hat eine sehr ähnliche Wirkung auf die Seele: Auch er verbindet sie mit ihrem inneren Wesen, ruft die Erinnerung an die Schöpfung und den Schöpfer wach (»Sikaron leMaʼasse Bereschit«) und erkennt G’tt als den König an, der uns aus Ägypten herausgeführt hat. Er richtet unsere Sinne auf die künftige Erlösung aus und knüpft an die Genüsse der künftigen Welt an. Der Unterschied liegt vor allem darin, dass dies alles am Schabbat den ganzen Tag über geschieht, 24 Stunden lang, und nicht nur während einiger Minuten. Damit ist die Wirkung des Schofarblasens im Schabbat bereits impliziert und kann einen ganzen Tag lang erlebt werden.
Der Autor ist Oberrabbiner der Israelitischen Kultusgemeinde Wien.