An einem Ufer saß ein Mann und angelte, neben ihm ein Wassereimer mit einigen Fischen darin. Da kam ein zweiter Mann vorbei, schaute eine Weile interessiert zu und fragte dann, was der Angler mit den Fischen machen würde. »Am Abend nehme ich so viele Fische aus dem Eimer, wie meine Familie essen möchte, und die restlichen werfe ich zurück ins Wasser.«
»Wäre es nicht sinnvoller, sie am nächsten Tag auf dem Markt zu verkaufen, statt sie wieder ins Wasser zu werfen?«
»Warum?«
»Mit dem dazugewonnenen Geld könnten Sie sich dann irgendwann ein Boot kaufen.«
»Wozu brauche ich ein Boot?«
»Um aufs Meer hinauszufahren und noch mehr Fische zu fangen.«
»Und dann?«
»Dann könnten Sie sich von den zusätzlichen Einnahmen ein richtiges Schiff und mit der Zeit sogar eine Besatzung leisten, die jeden Tag ganz viele Fische fängt«, gerät der Passant ins Schwärmen.
»Und dann?«
»Äh, ja, hmm ... – dann müssten Sie nicht mehr arbeiten gehen und könnten mit Vergnügen angeln!«
»Aber das tue ich doch jetzt schon!«
Vision Manchmal steigern wir uns im Leben so sehr in eine weit entfernte Vision, streben große Wunschträume an und verlieren dabei aus den Augen, was uns wirklich am Herzen liegt. Obwohl uns diese Dinge oft so nahe sind, übersehen wir sie. Wie oft vergessen wir, dass ein bisschen mehr Zeit mit unseren Lieben, ein bisschen mehr innere Ruhe und Einklang, ein bisschen mehr Aufmerksamkeit für die Freuden des Alltags, da ein tiefer gehender Gedankengang und dort eine gute Tat, unser Leben so wertvoll machen können – so viel lebenswerter als alle Wunschträume zusammen!
Genau darum geht es im Grundgedanken von Elul, dem Monat der Teschuwa, der Umkehr, oder besser gesagt: der Rückkehr zu sich selbst.
In diesen Wochen lesen wir den Wochenabschnitt »Nizawim« und entdecken darin die passenden Worte: »Denn das Gebot, das Ich dir heute auftrage, ist dir weder verborgen noch zu fern. Es ist nicht im Himmel, dass du sagen möchtest: Wer will uns in den Himmel steigen und es uns holen, dass wir’s hören und tun? Es ist auch nicht jenseits des Meeres, dass du sagen möchtest: Wer will uns über das Meer fahren und es uns holen, dass wir’s hören und tun? Denn die Sache ist ganz nah bei dir, in deinem Mund und in deinem Herzen, dass du es tust« (5. Buch Mose 30, 11–14).
Es geht um die Einkehr, die Selbstfindung, darum, wieder Dinge in uns zu entdecken, die eigentlich dem innersten Ich entsprechen, von dem wir uns aber allzu oft entfernen und uns damit selbst entfremden.
Doch wie kommt es dazu? Und wie finden wir wieder zu uns zurück?
Elul ist der Monat der Vorbereitung auf Rosch Haschana, das jüdische Neujahrsfest. Ein Blick auf die ursprünglichen Ereignisse dieses erhabenen Tages vermittelt uns ein Verständnis davon, was schiefgelaufen ist und wie es zur ersten Selbstentfremdung des Menschen kam.
Am 1. Tischri, dem Tag des Neujahrsfestes, wurde laut unserer Überlieferung Adam, der erste Mensch, erschaffen (Talmud, Rosch Haschana 10b).
Kaum erschaffen, führte G’tt ihn durch den Garten Eden: »Und G’tt nahm den Menschen und setzte ihn in den Garten Eden, dass er ihn bearbeitete und hütete. Und G’tt befahl dem Menschen: Von allen Bäumen des Gartens darfst du essen. Nur von dem Baum der Erkenntnis von Gut und Böse sollst du nicht essen, denn an dem Tag, an dem du davon isst, wirst du sterben« (1. Buch Mose 2, 15–17).
Eva wurde von Adam getrennt, und sogleich machte sich die listige Schlange ans Werk: »Und sie sprach zur Frau: ›G’tt sagte doch, ihr sollt von keinem Baume im Garten essen.‹ Die Frau aber erwiderte der Schlange: ›Von den Früchten der Bäume im Garten dürfen wir essen. Von der Frucht des Baumes aber, der in der Mitte des Gartens steht, sagte G’tt: Esst nicht davon‹« (3, 1–3).
Obwohl sich Eva offenbar gegen die dreiste Lüge der Schlange wehrte, ging sie ihr doch in die Falle.
Genauso wie es Eva tat, wird allgemein angenommen, es sei G’ttes erstes Gebot an den Menschen gewesen, nicht von der Frucht des verbotenen Baumes zu essen. Doch beim genauen Lesen entdecken wir, dass das Gegenteil der Fall ist: »Und G’tt befahl dem Menschen: Von allen Bäumen des Gartens darfst du essen!«
Das Erste, was G’tt dem Menschen mitteilte, war, dass er von den Bäumen des Gartens essen darf und soll: »Sieh dir diese schöne Welt an. Ich habe sie erschaffen, nun steht sie dir zur Verfügung, du darfst sie benutzen, du sollst sie genießen! Doch wisse, nicht alles auf dieser Welt ist erlaubt. Einer der Bäume sei dir verboten, denn als höheres Wesen musst du dich einschränken und kontrollieren lernen.«
Eva jedoch sah und deutete die Dinge anders: »Von den Früchten der Bäume im Garten dürfen wir essen.« Ja, wir dürfen von allem essen, weil es eben einfach da ist. Wer es gemacht hat und uns zur Verfügung stellt – nicht so wichtig!
G’tt jedoch kommt genau da ins Spiel: »Von der Frucht des Baumes aber, der in der Mitte des Gartens steht, sagte Er: Esst nicht davon!« G’tt war es, der uns dieses lästige Verbot auferlegt hat.
Bereits hier hat der Mensch gesündigt, denn mit dieser inneren Einstellung war es der Schlange ein Leichtes, Eva zu manipulieren und zur Sünde zu verleiten.
Als sich der Mensch nach der Sünde vor G’tt versteckte, rief dieser ihm »Ajekka?« zu. Das soll nicht heißen »Wo bist du?«, sondern: »Was ist mit dir geschehen?« Sind wir nicht vorhin gemeinsam durch den Garten gewandelt? Was ist mit dir passiert, dass du dich vor Mir versteckst, in Mir plötzlich nur noch einen Polizisten siehst?
Harmonie Zur ersten Sünde führte also, dass sich der Mensch von G’tt entfremdet hatte. Er hatte die innere Harmonie verloren, das Verständnis, dass G’tt uns mit der von Ihm erschaffenen Welt so viel Gutes zur Verfügung stellt.
Wenn wir doch nur dieses Gute in vollen Zügen zu genießen wüssten, anstatt der einen einzigen verbotenen Frucht nachzujagen! Dann hätten wir uns nicht selbst aus dem Garten Eden vertrieben, würden uns nicht selbst aus dem uns innewohnenden Paradies ausschließen.
Die Verse im Wochenabschnitt Nizawim drücken genau diese Botschaft aus: »Denn die Sache ist gar nahe bei dir, in deinem Mund und in deinem Herzen, dass du es tust« (5. Buch Mose 30,14).
Die Kommentatoren fragen, was wohl mit »der Sache« gemeint ist: die Tora in ihrer Gesamtheit, oder die Teschuwa, die Rückkehr, im Spezifischen.
Jedenfalls soll der Mensch diese Sache auf drei Ebenen aufnehmen und ausführen: in den Gedanken (»in deinem Herzen«), in der Rede (»in deinem Mund«) und in der Tat (»es zu tun«).
Was die Teschuwa betrifft, finden wir dieselbe Dreiteilung an anderer Stelle, nämlich im zentralen Teil des Gebetes »Unetane tokef« an Rosch Haschana: »Und Umkehr und Gebet und Wohltat machen das verhängte Urteil zunichte.«
Die Rückkehr soll also auf denselben drei Ebenen stattfinden: in den Gedanken (»Umkehr« – durch Nachsinnen), in der Rede (»Gebet«) und in der Tat (»Wohltat«).
Zwischen diesen Ebenen besteht ein direkter innerer Zusammenhang, wie Raw Kook in Orot HaTeschuwa beschreibt: »Und sofort, (wenn die Seele erkennt, dass die schlechten Taten und Eigenschaften den Menschen wie mit einem Vorhang von den klaren g’ttlichen Erkenntnissen trennen,) erwacht im Inneren des Herzens die Lust auf vollkommene Rückkehr. (...) In vielen Fällen wird diese nicht Wirklichkeit, solange ihr nicht das Gebet nahe ist. (...) Gebet und Wehklage und Rückkehr kommen aus den Tiefen des Herzens, und ihre Enthüllung in der Realität (geschieht durch) die korrigierten Taten – diese sind notwendig, bevor jedes Licht der oberen Erkenntnis auftritt« (10, 10–11).
ERkenntnis Das Nachsinnen und die Erkenntnis, der erste Schritt der Umkehr, geschehen auf gedanklicher Ebene – zwischen dem Menschen und sich selbst, verborgen in seinem Inneren.
Erst durch das Gebet aber, durch seine Sprachbegabung, die seine innere Gedankenwelt mit der Außenwelt verbindet, kommt sie zum Ausdruck und offenbart sich schließlich in der Umgebung durch Taten. Ohne Rede und Tat wird die innere Umkehr des Menschen nicht in die Wirklichkeit umgesetzt und bleibt unvollständig, fehlerhaft.
»Denn die Sache ist dir sehr nahe« – die Tora und die Umkehr befinden sich bereits tief im Inneren des Menschen, »in deinem Mund und in deinem Herzen, es zu tun«.
Gedanken, Rede und Taten sind die Mittel, die dem Menschen zur Verfügung stehen, um diese aus der Tiefe seiner Seele an die Außenwelt zu tragen und in unserer Welt wirken zu lassen.
Der Baal Hatania (1,4) ergänzt hierzu, dass diese die Mittel sind, die der Seele des Menschen auf dieser Welt Ausdruck verleihen: In den Gedanken offenbart sich die Seele dem Menschen selbst gegenüber, in der Rede enthüllt sie sich nach außen, und in den Taten zeigt sie sich der Außenwelt. Im Zusammenwirken von Gedanken, Rede und Tat spiegelt sich die menschliche Seele, das innere Ich, wider.
Im Monat Elul sind wir aufgerufen, zu uns selbst zu finden, über unsere Gedanken, Worte und Taten den Weg zu unserem ursprünglichen Sein wiederzuentdecken. Der Weckruf hierfür erfasst uns jeden Morgen dieses Monats durch das Schofar, dessen Töne täglich beim Morgengebet unser Innerstes wachrütteln sollen. Er ruft uns zu: »Was schläfst du? (Jona 1,6). Wacht auf, wacht auf, ihr Schlafenden (Rambam, Hilchot Teschuwa 3,7), findet zu euch selbst zurück!«
Der Autor ist Rabbiner in Karmiel/Israel.