Talmudisches

Kaiser Vespasian und die Märtyrer

Kaiser Vespasian ließ drei Schiffe mit Männern und Frauen aus den vornehmsten Familien Jerusalems beladen. Foto: dpa

Talmudisches

Kaiser Vespasian und die Märtyrer

Warum sich Jerusalemer Gefangene ins Meer stürzten

von Rabbiner Boris Ronis  02.05.2017 15:52 Uhr

Ein Midrasch erzählt, wie Kaiser Vespasian (1. Jahrhundert n.d.Z.) drei Schiffe mit Männern und Frauen aus den vornehmsten Familien Jerusalems beladen ließ. Sie sollten in die Bordelle Roms gebracht werden. Die Gefangenen dachten: Reicht es nicht, dass wir den Ewigen in seinem Heiligtum erzürnt haben – sollen wir uns nun auch noch außerhalb seines Landes gegen Ihn versündigen?

Die Männer fragten die Frauen: »Geht ihr freiwillig dorthin, wohin man euch führen will?« Die Frauen erwiderten: »Nein.« Da besprachen die Männer untereinander: »Wenn die, die von Natur aus so geschaffen sind, sich der Sinnenlust entsagen, um wie viel mehr müssen wir uns weigern, die man wider die Natur zur Sinnenlust zwingen will? Doch denkt ihr, wenn wir uns jetzt ins Meer stürzen, werden wir dann das ewige Leben erhalten?« Sogleich erleuchtete der Heilige, gelobt sei Er, ihre Augen, dass ihnen der Vers in den Sinn kam: »Aus der Tiefe des Meeres will ich sie holen« (Tehillim 68,23).

Die Gefangenen auf dem ersten Schiff erhoben sich und riefen: »Wenn wir den Namen unseres Gottes vergessen hätten ...« – und stürzten sich ins Meer. Die Gefangenen auf dem zweiten Schiff erhoben sich und riefen: »Um deinetwillen werden wir täglich erwürgt ...« – und stürzten sich ins Meer. Die dritte Reihe der Gefangenen erhob sich und rief: »Gott aber wird dies ergründen, Er kennt unseres Herzens Grund« – und stürzten sich ins Meer.

Da klagte der Heilige und rief: »Um diese ist es, dass ich weine« (Echa Rabba 1,45).

Tempel Der große Jüdische Krieg, in dem der römische Kaiser Vespasian sowie sein Sohn Titus Jerusalem und Israel eroberten und vernichteten, begann im Jahr 66 n.d.Z. Er endete im Jahr 70 n.d.Z. mit der endgültigen Einnahme und der Zerstörung des Zweiten Tempels in Jerusalem. Auslöser waren steuerliche Erschwernisse seitens der Römer, die nicht erfüllt werden konnten. Hinzu kam die Entweihung des Tempels, weil die Juden nicht zahlten – der Tempelschatz wurde beschlagnahmt.

Für die Juden mündete der Krieg gegen die Römer in eine Katastrophe: Viele verloren ihr Leben, andere wurden versklavt, der zentrale Ort der Heiligung Gottes, der Tempel, wurde zerstört. Von da an standen wir vor dem Nichts – und so begann unsere fast 2000-jährige Diaspora und die religiöse und kulturelle Umstrukturierung des Judentums.

Kiddusch Haschem Eine der großen Fragen war und blieb: Wie kann ich den Namen Gottes ohne Tempel weiter heiligen? Die Heiligung des göttlichen Namens – Kiddusch Haschem – ist etwas, das wir als Juden zu unserer Tugend erklärt haben. Doch die Heiligung des Ewigen kann in jeweils zwei Richtungen erfolgen: in Richtung Leben oder in Richtung Tod. Im oben genannten Beispiel entschieden sich die versklavten und unterdrückten Menschen für den Tod.

Die Frage, wann wir uns dem Tod im Sinne eines Märtyrers stellen müssen, ist im Laufe unserer Tradition lang und breit diskutiert worden. Leider gab es auch im Judentum eine Zeit, die unser Dasein als Märtyrer forderte. Einer der Bekanntesten ist Rabbi Akiwa (50–135 n.d.Z.), der von den Römern zu Tode gefoltert wurde. Viele weitere starben während des Bar-Kochba-Aufstands (132–135 n.d.Z.) als Märtyrer.

Als wir noch aktiv gegen die Römer kämpfen konnten, da erschien uns selbst der Preis, das eigene Leben hingeben zu müssen, als mögliche Alternative. Doch dieser Gedanke änderte sich in der Galut, der Diaspora. Der Druck, die Unbarmherzigkeit der Fremde und ihr Hang, uns Juden kulturell und religiös verschwinden zu lassen, waren enorm. Und so entschied man sich für das Leben.

Maimonides, der Rambam (1135–1204), äußerte sich über den Märtyrertod folgendermaßen (Hilchot Jesode HaTora 5,1): Jedem Israeliten ist es geboten, Gottes Namen zu heiligen (Kiddusch Haschem zu üben), denn es heißt: »Ich will geheiligt werden inmitten der Israeliten« (3. Buch Mose 22,32). Wenn ein Nichtjude einen Juden zwingen will, irgendeines der Gebote der Tora zu übertreten, und droht, ihn zu töten, dann soll der Jude die Gebote übertreten und nicht sterben – wie es ja bezüglich der Gebote heißt: »die der Mensch erfüllen soll, um durch sie zu leben« (18,5).

Mit unserer Hinwendung zum Leben erfüllen wir die Forderung, Gott zu heiligen. Es ist ein Statement für Menschlichkeit und Liebe.

Chanukka

Wofür wir trotz allem dankbar sein können

Eine Passage im Chanukka-Gebet wirkt angesichts des Anschlags von Sydney wieder ganz aktuell. Hier erklärt ein Rabbiner, was dahinter steckt

von Rabbiner Akiva Adlerstein  17.12.2025

Attentat in Sydney

»Was würden die Opfer nun von uns erwarten?«

Rabbiner Yehuda Teichtal hat bei dem Attentat in Sydney einen Freund verloren und wenige Stunden später in Berlin die Chanukkia entzündet. Ein Gespräch über tiefen Schmerz und den Sieg des Lichts über die Dunkelheit

von Mascha Malburg  16.12.2025

Meinung

Es gibt kein Weihnukka!

Ja, Juden und Christen wollen und sollen einander nahe sein. Aber bitte ohne sich gegenseitig zu vereinnahmen

von Avitall Gerstetter  15.12.2025

Chanukka

Das jüdische Licht

Die Tempelgeschichte verweist auf eine grundlegende Erkenntnis, ohne die unser Volk nicht überlebt hätte – ohne Wunder kein Judentum

von Rabbiner Aharon Ran Vernikovsky  12.12.2025

Deutschland-Reise

Israels Oberrabbiner besucht Bremen

Kalman Meir Ber trifft Bürgermeister Andreas Bovenschulte und die Präsidentin der Bremischen Bürgerschaft, Antje Grotheer (beide SPD)

 12.12.2025

Wajeschew

Ein weiter Weg

Das Leben Josefs verlief nicht geradlinig. Aber im Rückblick erkennt er den Plan des Ewigen

von Rabbinerin Yael Deusel  12.12.2025

Talmudisches

Nach der Sieben kommt die Acht

Was unsere Weisen über die Grenze zwischen Natur und Wunder lehren

von Vyacheslav Dobrovych  12.12.2025

Chanukka

Nach dem Wunder

Die Makkabäer befreiten zwar den Tempel, doch konnten sie ihre Herrschaft nicht dauerhaft bewahren. Aus ihren Fehlern können auch wir heute lernen

von Rabbiner Julian-Chaim Soussan  12.12.2025

Quellen

Es ist kompliziert

Chanukka wird im Talmud nur selten erwähnt. Warum klammerten die Weisen diese Geschichte aus?

von Rabbiner Avraham Radbil  11.12.2025