Ein Midrasch erzählt, wie Kaiser Vespasian (1. Jahrhundert n.d.Z.) drei Schiffe mit Männern und Frauen aus den vornehmsten Familien Jerusalems beladen ließ. Sie sollten in die Bordelle Roms gebracht werden. Die Gefangenen dachten: Reicht es nicht, dass wir den Ewigen in seinem Heiligtum erzürnt haben – sollen wir uns nun auch noch außerhalb seines Landes gegen Ihn versündigen?
Die Männer fragten die Frauen: »Geht ihr freiwillig dorthin, wohin man euch führen will?« Die Frauen erwiderten: »Nein.« Da besprachen die Männer untereinander: »Wenn die, die von Natur aus so geschaffen sind, sich der Sinnenlust entsagen, um wie viel mehr müssen wir uns weigern, die man wider die Natur zur Sinnenlust zwingen will? Doch denkt ihr, wenn wir uns jetzt ins Meer stürzen, werden wir dann das ewige Leben erhalten?« Sogleich erleuchtete der Heilige, gelobt sei Er, ihre Augen, dass ihnen der Vers in den Sinn kam: »Aus der Tiefe des Meeres will ich sie holen« (Tehillim 68,23).
Die Gefangenen auf dem ersten Schiff erhoben sich und riefen: »Wenn wir den Namen unseres Gottes vergessen hätten ...« – und stürzten sich ins Meer. Die Gefangenen auf dem zweiten Schiff erhoben sich und riefen: »Um deinetwillen werden wir täglich erwürgt ...« – und stürzten sich ins Meer. Die dritte Reihe der Gefangenen erhob sich und rief: »Gott aber wird dies ergründen, Er kennt unseres Herzens Grund« – und stürzten sich ins Meer.
Da klagte der Heilige und rief: »Um diese ist es, dass ich weine« (Echa Rabba 1,45).
Tempel Der große Jüdische Krieg, in dem der römische Kaiser Vespasian sowie sein Sohn Titus Jerusalem und Israel eroberten und vernichteten, begann im Jahr 66 n.d.Z. Er endete im Jahr 70 n.d.Z. mit der endgültigen Einnahme und der Zerstörung des Zweiten Tempels in Jerusalem. Auslöser waren steuerliche Erschwernisse seitens der Römer, die nicht erfüllt werden konnten. Hinzu kam die Entweihung des Tempels, weil die Juden nicht zahlten – der Tempelschatz wurde beschlagnahmt.
Für die Juden mündete der Krieg gegen die Römer in eine Katastrophe: Viele verloren ihr Leben, andere wurden versklavt, der zentrale Ort der Heiligung Gottes, der Tempel, wurde zerstört. Von da an standen wir vor dem Nichts – und so begann unsere fast 2000-jährige Diaspora und die religiöse und kulturelle Umstrukturierung des Judentums.
Kiddusch Haschem Eine der großen Fragen war und blieb: Wie kann ich den Namen Gottes ohne Tempel weiter heiligen? Die Heiligung des göttlichen Namens – Kiddusch Haschem – ist etwas, das wir als Juden zu unserer Tugend erklärt haben. Doch die Heiligung des Ewigen kann in jeweils zwei Richtungen erfolgen: in Richtung Leben oder in Richtung Tod. Im oben genannten Beispiel entschieden sich die versklavten und unterdrückten Menschen für den Tod.
Die Frage, wann wir uns dem Tod im Sinne eines Märtyrers stellen müssen, ist im Laufe unserer Tradition lang und breit diskutiert worden. Leider gab es auch im Judentum eine Zeit, die unser Dasein als Märtyrer forderte. Einer der Bekanntesten ist Rabbi Akiwa (50–135 n.d.Z.), der von den Römern zu Tode gefoltert wurde. Viele weitere starben während des Bar-Kochba-Aufstands (132–135 n.d.Z.) als Märtyrer.
Als wir noch aktiv gegen die Römer kämpfen konnten, da erschien uns selbst der Preis, das eigene Leben hingeben zu müssen, als mögliche Alternative. Doch dieser Gedanke änderte sich in der Galut, der Diaspora. Der Druck, die Unbarmherzigkeit der Fremde und ihr Hang, uns Juden kulturell und religiös verschwinden zu lassen, waren enorm. Und so entschied man sich für das Leben.
Maimonides, der Rambam (1135–1204), äußerte sich über den Märtyrertod folgendermaßen (Hilchot Jesode HaTora 5,1): Jedem Israeliten ist es geboten, Gottes Namen zu heiligen (Kiddusch Haschem zu üben), denn es heißt: »Ich will geheiligt werden inmitten der Israeliten« (3. Buch Mose 22,32). Wenn ein Nichtjude einen Juden zwingen will, irgendeines der Gebote der Tora zu übertreten, und droht, ihn zu töten, dann soll der Jude die Gebote übertreten und nicht sterben – wie es ja bezüglich der Gebote heißt: »die der Mensch erfüllen soll, um durch sie zu leben« (18,5).
Mit unserer Hinwendung zum Leben erfüllen wir die Forderung, Gott zu heiligen. Es ist ein Statement für Menschlichkeit und Liebe.