Es gibt nur wenige Personen in der Hebräischen Bibel, die einen solchen Bekanntheitsgrad aufweisen wie Abraham. Und eigentlich muss einen das auch nicht wundern, schließlich ist er eine Art jüdischer Superstar. Er ist einer unserer drei Stammväter – der personifizierte Beginn jüdischer Geschichte.
Protojude Doch so wichtig Abraham als jüdischer Patriarch und als Protojude auch war, so sehr stellt sich die Frage, warum ausgerechnet er von G’tt mit einer besonderen Mission betraut wurde? Warum war ausgerechnet er es, mit dem der Ewige Seinen Bund schloss? Warum wurden ausgerechnet er und seine Frau Sara zur Keimzelle des jüdischen Volkes, dem zahlreiche Verheißungen zuteilwurden?
Die Tora selbst gibt – zumindest auf den ersten Blick – keinen Grund an. Hat scheinbar keine Erklärung parat. Lässt uns im Dunkeln tappen. Sicher: Die Tradition und die rabbinischen Erzählungen präsentieren uns eine Reihe von Geschichten, welche die offensichtliche Leerstelle mit Inhalt füllen. Doch mit Blick auf die Erzählungen des 1. Buchs Mose braucht es schon eines weiteren Blickwinkels, um der Lösung des Rätsels näher zu kommen.
ARCHE Und hier hilft vor allen Dingen der direkte Vergleich mit einem anderen biblischen Protagonisten. Und zwar der Vergleich mit Noah. Also demjenigen, der auf G’ttes Geheiß die Arche gebaut und durch seine Folgsamkeit das Überleben der Menschheit sichergestellt hat.
»Man kann in einen Pelzmantel schlüpfen oder ein Feuer entzünden.«
Rabbi Mendel von Kotzk
Abraham – Noah … Vielleicht lassen wir die biblischen Geschichten noch einmal kurz Revue passieren: Da ist zum einen Noah. Ein Gerechter. Überhaupt der Einzige in der ganzen Tora, von dem es heißt, dass er ein Gerechter sei. Ein Rechtschaffener inmitten einer verdorbenen, moralisch erodierten Gesellschaft, der auf Geheiß G’ttes eine Arche baut und mit seiner Familie und einer bunten Mischung von Tieren die Sintflut überlebt, die den Rest der Menschheit hinwegrafft.
Noah und seine Familie, die es als Einzige wert sind, vor dem Untergang gerettet zu werden. Der Mann, mit dem G’tt einen Bund schließt und der als Vater aller Na-tionen in die Geschichte eingehen soll. Der den Neuanfang symbolisiert. Und trotzdem tief fällt, als er gegen Ende der Episode betrunken und nackt in seinem Zelt liegt. Entwürdigt vor den Augen seiner Söhne.
Abraham verhandelte hart, um den Bewohnern von Sodom und Gomorra eine Chance zu geben.
Auf der anderen Seite haben wir Abraham. Der Mann, der den ethischen Monotheismus aus der Taufe gehoben hat und der auf G’ttes Weisung hin seine Heimat und seine Umgebung verlässt, um diese revolutionäre Idee, um Gerechtigkeit und das Gute in die Welt zu tragen.
Abraham, der nicht nur bereit ist, seinen Weg auch dann zu verteidigen und zu lehren, wenn er sich gegen die ganze Welt stellen muss, sondern der den Ewigen herausfordert, als er erfährt, dass dieser die Städte Sodom und Gomorra wegen der Verfehlungen ihrer Bewohner zerstören will.
Zerstörung Der G’tt mit der kühnen Frage konfrontiert, ob denn der Richter der ganzen Welt kein Recht walten lassen wolle, und anschließend hartnäckig mit dem Ewigen über die Voraussetzungen für die Zerstörung der Städte und seiner Einwohner verhandelt. Mit dem G’tt schließlich einen Bund schließt. Dem der Ewige unterschiedliche Verheißungen zuteilwerden lässt. Und der sozusagen als Prototyp des Juden die Idee des einen und einzigen G’ttes auf der Suche nach Gerechtigkeit und dem Guten in eine Welt von Vielgötterei, Aberglaube und Machtmissbrauch bringt.
Die Unterschiede sind offensichtlich. Hier der Gerechte, der ein tragisches, bemitleidenswertes Ende nimmt. Dort der Aufrechte, der zum Sinnbild von Treue, Gerechtigkeit und Rechtschaffenheit wird. Was aber war es, das Noah am Ende straucheln ließ, während Abraham glänzte? Oder anders: Warum wurde Abraham letztlich zum Stammvater der Juden und nicht Noah?
Noah war zwar ein Gerechter. Sogar der einzige seiner ganzen Generation. Er war tadellos und hat den Worten G’ttes stets gehorcht. Noah hätte einen prachtvollen Schwiegersohn abgegeben: anständig, aufrichtig, mit guten Manieren und keine Widerworte gebend.
Er wandelte – wie es heißt – mit G’tt. Doch seine Rechtschaffenheit blieb letztlich ohne Wirkung. Obwohl er über Jahrzehnte eine riesige Arche baute und die Menschen um ihn herum auf ihre Verfehlungen und ihr Versagen hätte hinweisen können, schwieg er. Obwohl er hätte versuchen können, sie zu einem aufrichtigen und anständigen Leben zu bewegen, tat er nichts dergleichen.
Er besaß den Mut und den moralischen Kompass, selbst G’tt herauszufordern.
Und genau das war das Problem und gleichzeitig der große Unterschied zu Abraham: Noah tat zwar, wie ihm der Ewige geheißen hatte, doch was tat er, als ihm gewahr wurde, dass die Menschheit dem Untergang geweiht ist?
Nichts! Kein Wort, kein Protest, kein Aufschrei! Kein Hadern mit der Entscheidung G’ttes, kein Aufbegehren. Absolut nichts! Er mag tadellos gewesen sein, übte aber keinen positiven oder bleibenden Einfluss auf seine Mitmenschen aus. Rüttelte sie nicht auf. Übernahm keine Verantwortung. Und stellte auch G’ttes drastische Entscheidung nicht einen Moment infrage.
Ganz anders dagegen Abraham: Nicht nur widmete er einen großen Teil seines Lebens der Verbreitung einer einzigartigen, universellen und revolutionären Idee. Und nicht nur war sein Verhalten gegenüber seinen Mitmenschen beispielhaft, sei es, als er seinem Neffen zur Hilfe eilte, oder als er im Zustand eigener Schwäche fremde Besucher bewirtete.
KOMPASS Vor allem besaß er den Mut und den moralischen Kompass, selbst G’tt herauszufordern, als er zugunsten der Einwohner der Städte Sodom und Gomorra einschritt. Also ausgerechnet derjenigen Städte, die sinnbildlich für den moralischen Verfall stehen, für Aggression, soziales Verderben und Bösartigkeit der Menschen. Dennoch: Abraham trat G’tt mit drastischen und eindringlichen Worten entgegen: »Willst du etwa den Gerechten mit dem Bösewicht hinrichten? … Fern sei es von dir, so etwas zu tun, den Gerechten mit dem Bösewicht umzubringen, dass der Gerechte und der Bösewicht gleich sei. Fern sei es von dir! Soll der Richter der ganzen Erde nicht Gerechtigkeit üben?« (1. Buch Mose 18, 23–25).
In dieser Situation, in der er das Gefühl hatte, dass den Bewohnern der Städte Unrecht geschehen oder eine zu harte Bestrafung zuteilwerden könnte, bei der die Gerechten mit den Schlechten gestraft würden, oder dass die Schlechten noch eine Chance zur Umkehr erhalten sollten, erhob er seine Stimme und forderte G’tt heraus. Er schwieg nicht, sondern stritt für das Leben der Menschen. Selbst wenn diese es möglicherweise nicht verdient hatten.
Der chassidische Rabbiner Mendel von Kotzk beschrieb diesen Unterschied einst mit einem bildhaften Vergleich: Im Winter gibt es zwei Möglichkeiten, der Eiseskälte zu begegnen. Man kann in einen Pelzmantel schlüpfen oder ein Feuer entzünden. In beiden Fällen wird einem warm. Während der Mantel aber nur denjenigen wärmt, der ihn trägt, wärmt das Feuer jeden Menschen, der sich in Reichweite der Flammen befindet. Noah war ein »Zaddik im Pelz«, wie es heißt. Ein Gerechter in einem Pelzmantel. Abraham hingegen entfachte ein loderndes Feuer.
IDEALE Und genau diese Tatsache war – unter anderem – der Grund, warum G’tt Abraham wählte, um die Ideale von Gerechtigkeit, Nächstenliebe und Treue in die Welt zu tragen. Dabei war es G’tt selbst, der Abraham dazu ermuntert hatte, für das Leben der Menschen in den beiden Städten zu streiten.
Noah war ein »Zaddik im Pelz«. Abraham hingegen entfachte ein loderndes Feuer.
Der Ewige höchstpersönlich nämlich stellte die Frage in den Raum, ob Er vor Abraham denn verheimlichen solle, was Er mit Sodom und Gomorra zu tun gedenke (1. Buch Mose 18,17). Eine rhetorische Frage, die auf eine Reaktion, auf einen Widerspruch Abrahams abzielte. Und den bekam er ja auch postwendend, indem Abraham hartnäckig mit G’tt verhandelte. Indem er darum kämpfte, selbst den verkommenen Bewohnern noch eine Chance zu geben.
Noah war ein Gerechter. Ein Gerechter in einem Pelz. Solche Menschen braucht es, und sie sind wertvoll. Aber das alleine reicht nicht. Denn sie sind nicht dazu geeignet, außergewöhnliche Ideen zu verbreiten oder die Welt dort draußen dauerhaft zum Guten zu verändern. Dafür braucht es ein anderes Kaliber. Nämlich Kämpfer für das Recht. Streiter für Gerechtigkeit. Und Botschafter der Liebe. So wie Abraham es war. Und so wie es seine Nachkommen bis zum heutigen Tag sein sollen. Im Idealfall zumindest.
Der Autor ist Direktor des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden in Hessen.