Vergangene Woche war es wieder so weit: Ein jüdischer Feiertag fiel mitten in die deutsche Arbeitswoche und stellte religiöse Jüdinnen und Juden vor unangenehme Fragen: Werde ich zu Schawuot von meinem Arbeitgeber selbstverständlich freibekommen? Oder kann ich vielleicht still und heimlich mit dieser einen Kollegin die Schichten tauschen, der ich anvertraut habe, dass ich jüdisch bin? Wird die Professorin darüber hinwegsehen, dass ich nicht in ihrer Vorlesung erscheine, oder muss ich mich an die Institutsleitung wenden? Und was ist mit der Schulpflicht meiner Kinder?
An biblischen Feiertagen und zu jedem Schabbat sind Juden religiös verpflichtet, ihre Arbeit niederzulegen und auf Tätigkeiten zu verzichten, die beinahe jeden Job unmöglich machen. Unter anderem müssen Handys und Laptops weggelegt werden, auch darf man nicht mit einem Stift schreiben, mit Geld hantieren, etwas bauen oder reparieren. Kinder können nicht zur Schule gehen, Studierende keine Prüfungen schreiben, Termine beim Amt können nicht wahrgenommen werden. Das führt observante Jüdinnen und Juden regelmäßig in ziemlich missliche Situationen.
Recht auf ungestörte Religionsausübung
Dabei wird bereits im Artikel 4 des deutschen Grundgesetzes das Recht auf ungestörte Religionsausübung garantiert. Doch in der Praxis ist es gar nicht so einfach, dieses Recht für sich geltend zu machen. Das Dilemma wird seit Jahren vor allem von orthodoxen Jüdinnen und Juden thematisiert. Nun hat ein neues Policy Paper des Tikvah Instituts sowie eine juristische Tagung an der Humboldt-Universität in Berlin frischen Wind in die Debatte gebracht.
»Eigentlich sollte die Religionsfreiheit nicht jedes Mal erkämpft werden, sondern ein Jude hat Anspruch darauf und sollte nicht dafür um Gnade betteln«, findet Volker Beck, Geschäftsführer des Tikvah Instituts. Als Präsident der Deutsch-Israelischen Gesellschaft und ehemaliger Bundestagsabgeordneter kann Beck einige Fälle auflisten, für die er am Ende sogar politisch eingetreten ist, damit Juden durch die Ausübung ihrer Religion kein Nachteil entsteht.
Da war zum Beispiel die Tochter eines Rabbiners, die Medizin studieren wollte. Doch der Eignungstest fand bis 2019 bundesweit immer an einem Samstag statt. Trotz mehrfacher Nachfrage bekam die junge Frau keinen Ersatztermin. »Mit etwas politischem Druck ging es dann«, sagt Volker Beck. Doch natürlich sollte nicht jeder Jude sich gleich an Politik und Medien wenden müssen, um die Feiertage einhalten zu können.
Schließlich, so erklärt es der jüdische Richter Doron Rubin, tauchen diese Fragen für observante Juden nicht selten auf: Es gehe jedes Jahr um 52 Freitagabende und Samstage plus 13 Feiertage an variablen Wochentagen. »Das ist schon eine Masse.« Und nichts, dass man nebenbei individuell mit dem Arbeitgeber, der Lehrerin oder Uni abklären kann. In seiner orthodoxen Gemeinde in Berlin habe er schon einigen Widerstand erlebt: Bei Schülern und Studierenden helfe manchmal ein Schreiben des Rabbiners, um die Lehrenden zum Umdenken zu bewegen, bei manchen sturen Arbeitgebern aber sahen sich die Betroffenen am Ende gezwungen, den Job zu wechseln. »Für Juden, die nach der Halacha leben, gibt es in Bezug auf die Feiertage eben keinen Verhandlungsspielraum«, sagt Doron Rubin.
Freistellung für den Kirchgang am Morgen
Es sei wichtig zu verstehen, das betonen Volker Beck und Doron Rubin gleichermaßen, dass die jüdischen Feiertage nicht im christlichen Sinne geschützt werden können: Viele Feiertagsrechte der Bundesländer garantieren den Gläubigen beispielsweise allein eine Freistellung für den Kirchgang am Morgen. In einigen Bundesländern wurde diese Logik auch auf jüdische Feiertage übertragen: »Angehörigen einer Religionsgesellschaft ist an den religiösen Feiertagen ihres Bekenntnisses Gelegenheit zum Besuch der religiösen Veranstaltungen zu geben«, so steht es zum Beispiel im Berliner Gesetzestext.
»Der Synagogenbesuch ist aber eben nicht das Wichtigste an einem jüdischen Feiertag«, gibt Doron Rubin zu bedenken. Essenziell sei hingegen das Einhalten der Feiertagsruhe – und zwar volle 25 Stunden lang. »Das Feiertagsverständnis der christlich geprägten Mehrheitsgesellschaft sollte nicht pauschal auf andere religiöse Traditionen übertragen werden«, schreibt das Tikvah Institut.
Die jüdischen Festtage sind, wenn überhaupt, nur nach christlicher Logik geschützt.
In Bayern scheint man das, zumindest im Ansatz, verstanden zu haben. Das Feiertagsrecht im Freistaat weist einen eigenen Artikel für »israelitische Feiertage« auf, der die ganztägige Arbeitsruhe, unter Einschränkungen, beachtet: »An den israelitischen Feiertagen haben die bekenntniszugehörigen Schüler an den Schulen aller Gattungen unterrichtsfrei«, heißt es dort. Und mit Einschränkungen gilt das auch für »bekenntniszugehörige Arbeitnehmer sämtlicher öffentlicher und privater Betriebe und Verwaltungen«.
Volker Beck: »Bayern ist da wirklich schon weit«
»Bayern ist da wirklich schon weit«, lobt Volker Beck. Es sei neben Bremen auch eines der wenigen Bundesländer, die alle jüdischen Feiertage (außer den Schabbat) im Gesetz aufzählen. Auch wenn hier ebenfalls der christliche Anstrich sichtbar wird: Pessach heißt im bayerischen Gesetzestext falsch »Osterfest«. In Baden-Württemberg hingegen ist vom »jüdischen Pfingstfest« die Rede, wenn Schawuot gemeint ist. Auch im Schlussprotokoll des Staatsvertrages des Landes mit den Israelitischen Religionsgemeinschaften heißt es wörtlich: »Mit dieser Bestimmung werden die genannten jüdischen Feiertage als kirchliche Feiertage im Sinne des Feiertagsgesetzes geschützt.«
Insgesamt machen die Feiertagsgesetze der Länder dem Föderalismus alle Ehre: Keines gleicht dem anderen. In Nordrhein-Westfalen sind nur Rosch Haschana und Jom Kippur vom Gesetz geschützt, in anderen Bundesländern sucht man die jüdischen Feiertage im Gesetzestext vergeblich, teilweise sind sie auch in Verwaltungsvorschriften, Rechtsverordnungen oder Staatsverträgen versteckt. »Was vom Grundgesetz garantiert wird, sollte auch für die Rechtsanwendung in den Gesetzen explizit nachzulesen sein«, fordert Volker Beck.
Nicht nur an den Feiertagsgesetzen, auch am Beamten- und öffentlichen Dienstrecht, am Schul- und Hochschulgesetz müssten einige Änderungen vorgenommen werden, fordert das Tikvah Institut. Außerdem sollte man fairerweise am Ladenöffnungsgesetz schrauben, um koscheren Läden ein Öffnen am Sonntag zu ermöglichen, da sie Samstag schließen müssen. Auch einen Sonderurlaub für die sieben Tage des Schiwa-Sitzens nach einem Trauerfall schlägt das Institut in seinem Policy Paper für den Berliner Fall vor. Zuvor hatte das Institut schon konkrete Gesetzesvorschläge für Baden-Württemberg, Hamburg und Nordrhein-Westfalen erarbeitet.
»Entsprechend ihren kulturellen und religiösen Identitäten frei entfalten«
Jenseits der Landesgesetze hat sich der deutsche Rechtsstaat durchaus schon zu der Freiheit der Auslebung der jüdischen Religionsgesetze bekannt. So betont die Bundesregierung in ihrer Nationalen Strategie gegen Antisemitismus und für jüdisches Leben ausdrücklich das verfassungsrechtlich geschützte Recht von Jüdinnen und Juden darauf, sich »entsprechend ihren kulturellen und religiösen Identitäten frei zu entfalten«.
Das Bundesverfassungsgericht hat in seinen Urteilen diese freie Entfaltung in Fragen der Religion immer wieder als positives Recht formuliert. So heißt es im Urteil um eine Frau, die als Lehrerin ihr Kopftuch tragen wollte, der Artikel 4 des Grundgesetzes gebiete »auch im positiven Sinn, den Raum für die aktive Betätigung der Glaubensüberzeugung«.
Die religiös-weltanschauliche Neutralität des Staates sei nicht als eine distanzierende im Sinne einer strikten Trennung von Staat und Kirche zu verstehen, sondern als eine »offene und übergreifende, die Glaubensfreiheit für alle Bekenntnisse gleichermaßen fördernde Haltung«. Doch die Rechtspraxis in den Ländern gewährt im Alltag nicht, was Verfassung und Rechtsprechung im Grundsatz längst geklärt haben.
Letztlich, bringt es Doron Rubin auf den Punkt, gehe es darum, ob der Gesetzgeber tatsächlich »ein aktives, lebendiges Judentum hier haben möchte«. Gesetzesänderungen wären vor allem ein Zeichen an die wenigen, auch nach außen sichtbaren und besonders vom Antisemitismus betroffenen religiösen Juden. In seiner orthodoxen Gemeinde fragten sich viele, ob sie langfristig eine jüdische Zukunft in Deutschland aufbauen könnten. Ein verlässlicher Rechtsrahmen, der die ohnehin komplexe Einhaltung der jüdischen Gebote gewähre, ohne in Job und Karriere Rückschläge hinzunehmen, wäre zumindest ein Argument zu bleiben.
Vorteil einer Gesetzesänderung
Die Jurastudentin Alexandra Krioukov, Vorstandsmitglied bei der Jüdischen Studierendenunion Deutschland (JSUD), gibt noch einen weiteren Vorteil einer Gesetzesänderung zu bedenken: »Viele von uns entdecken gerade erst ihre jüdischen Traditionen wieder, nachdem unsere Eltern sie unter sowjetischer Repression verloren haben.«
Ihre jüdischen Kommilitonen seien daher vielleicht nicht religiös genug, um alle Gesetze der Feiertagsruhe zu achten. »Aber wenn ich an Pessach freibekomme, gehe ich gern zum Seder, auch wenn er bis tief in die Nacht geht.« Und an Jom Kippur zu fasten, falle auch leichter, wenn auf den Tag keine Uniprüfung falle. Dass Jüdinnen und Juden zu ihren Feiertagen freibekommen, sei also nicht nur für streng Gesetzestreue wichtig.
Ob nun nur orthodoxe Juden freinehmen oder alle: »Davon bricht die deutsche Wirtschaft nicht zusammen«, sagt Hannah Rubin, Rechtsanwältin und Ehefrau von Doron Rubin. »Selbst in großen Betrieben geht es doch höchstens um ein, zwei Juden, die tatsächlich freibekommen möchten.«
Hürden bei der Umsetzung
Größere Hürden bei der Umsetzung sieht sie eher bei der Furcht der Verantwortlichen vor möglichen Wünschen anderer Religionsgemeinschaften. Natürlich würde es weitaus mehr ins Gewicht fallen, wenn fünf Millionen Muslime die Arbeit niederlegen würden. Hannah Rubin warnt aber davor, die Fälle miteinander zu vergleichen: »Keine andere Religionsgemeinschaft setzt eine so explizite Arbeitsruhe voraus wie die jüdische.«
Susanna Kahlefeld, Grünen-Abgeordnete aus Neukölln und Sprecherin der Landesfraktion für Religionspolitik, sieht hingegen in der wachsenden Multireligiosität der Gesellschaft durchaus eine Chance für Gesetzesänderungen. Die Haltung zur spürbaren, ausgelebten Religiosität habe sich in ihrer Partei grundlegend verändert. »Diversität heißt für uns auch sichtbare Diversität«, sagt sie.
»Warum soll Religion bequem sein und vor allem für wen?«
Die Grünen-Fraktion hatte Ende Februar einen Antrag zur Änderung des Berliner Ladenöffnungsgesetzes eingebracht. Koschere Läden sollten demnach auch am Sonntag öffnen dürfen. Als dies im April im Abgeordnetenhaus diskutiert wurde, sagte Kahlefeld: »Menschen, deren Religion nicht auffällt, sind natürlich bequemer. Aber warum soll Religion bequem sein und vor allem für wen? (…) Man muss hier in Berlin ganz banal als jüdische Familie einfach leben und einkaufen können, ob man nun streng religiös lebt oder nicht.« Am Ende sprachen sich CDU, SPD und auch die Linke kritisch gegen den Antrag aus. Der Unionsabgeordnete Christan Gräff sagte, dass es einige wenige Jüdinnen und Juden in Berlin betrifft, die sich daran halten. »Wir müssen uns als Politik überlegen (…) für welche Anzahl wir Gesetze machen.«
Doch gerade diese Minderheitenstellung biete das entscheidende Argument, findet eine Teilnehmerin auf der juristischen Tagung der Humboldt-Universität. »Warum scheint es so ein Riesenproblem, in Berlin ganzen vier koscheren Läden am Sonntag zu erlauben, zu öffnen?«, fragt sie sichtlich genervt.
Egal, ob bei Ladenöffnungen, Uniprüfungsterminen oder Freistellungen am Feiertag: »Ich sehe eine Entwicklung im Diskurs, aber nicht im Gesetz«, sagt Volker Beck zum Ende der Tagung. Das Problem wurde von den Betroffenen, von Juristen und Politikern beschrieben. Nun geht es darum, es zu lösen – auch wenn es nur für wenige zählt.
Die Policy Papers für die Ländergesetze finden Sie auf tikvahinstitut.de/relifrei