Zum ersten Mal haben sich Mitglieder der Orthodoxen Rabbinerkonferenz Deutschland (ORD) mit Vertretern der katholischen Deutschen Bischofskonferenz zu einer interreligiösen Fachtagung getroffen. Während der zweitägigen Gespräche sprachen die Teilnehmer erstmals auch über aktuelle Fragen des theologischen Dialogs zwischen Kirche und Judentum. Eines der wichtigen Themen war das Verhältnis von Katholiken und Juden zum Staat Israel (vgl. Interview Seite 1).
Erklärungen Mit der Fachtagung analysierten die katholischen Vertreter unter Leitung des Vorsitzenden der Unterkommission der Deutschen Bischofskonferenz für die religiösen Beziehungen zum Judentum, Bischof Ulrich Neymeyr (Erfurt), zusammen mit Rabbinern aus dem gesamten Bundesgebiet unter Vorsitz von Rabbiner Avichai Apel (Frankfurt), Mitglied im Vorstand der ORD, die Hintergründe und Kernaussagen zweier Dokumente – der Erklärung der Päpstlichen Kommission für die religiösen Beziehungen zum Judentum »Denn unwiderruflich sind Gnade und Berufung, die Gott gewährt« von 2015 (anlässlich des 50-jährigen Jubiläums von »Nostra aetate«) sowie der Erklärung »Zwischen Jerusalem und Rom« führender Vereinigungen orthodoxer Rabbiner in Europa und Nordamerika und das Israelische Oberrabbinat von 2017.
Die Tagung sei ein wichtiger Beitrag zum jüdisch-katholischen Dialog, erklärte Bischof Neymeyr. Es sei »bitter nötig, die christlichen Wurzeln des Antijudaismus zu bekämpfen«. Alle Katholiken müssten wissen, dass ihre Kirche die Juden als das Volk Gottes sehe, das mit Gott in einem ungekündigten Bund lebe. Rabbiner Apel sagte: »Das Zusammenkommen von Bischöfen und Rabbinern soll das friedliche Miteinander im Alltag, am Arbeitsplatz, in der Nachbarschaft oder in Vereinen fördern.«
Bei einer Podiumsdiskussion am Sonntag in der Katholischen Akademie in Berlin wollten die Teilnehmer das Thema »Ist Europa alt, müde und kraftlos geworden?« diskutieren. Auf dem Podium saßen neben dem Vorsitzenden der Bischofskonferenz, Kardinal Reinhard Marx, und dem Mitglied im Beirat der ORD, Rabbiner Julian-Chaim Soussan (Frankfurt), auch Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, die Antisemitismusbeauftragte der Europäischen Kommission, Katharina von Schnurbein, und Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Armin Laschet (CDU).
Halle Doch im Fokus der Diskussion stand die Frage, welche Gefahren Antisemitismus und Populismus für den Fortbestand der Wertegemeinschaft darstellen. Immer wieder kam die Rede auf den Anschlag an Jom Kippur auf die Synagoge in Halle. Kardinal Marx sagte: »Dass in Deutschland ein fast militärisch durchgeführter Anschlag auf eine Synagoge stattfinden würde, hätte ich nicht für möglich gehalten.« Auch die katholische Kirche sei jetzt aufgefordert, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um judenfeindliche Ressentiments konsequent zu bekämpfen: »Als Christen müssen wir die Zusammengehörigkeit in der Gesellschaft fördern und deutlich sagen, dass sich Juden und Christen nicht voneinander trennen lassen werden«, sagte Marx.
Kardinal Marx zeigte sich »immer wieder überrascht über das Unwissen in den eigenen Reihen«.
Rabbiner Soussan stellte fest, der Angriff auf die Synagoge sei das Resultat einer Entwicklung, die man in mehreren Ländern Europas beobachten könne. »Der Antisemitismus ist eine Krankheit, die ganze Gesellschaften befällt und die deshalb auch nur von der Gesellschaft als Ganzes geheilt werden kann«, sagte er. Der Konsens der gesellschaftlichen Mitte in Abgrenzung zu den Rändern drohe zu erodieren. »Und wenn die Ränder weiter an Kraft gewinnen, wird es richtig gefährlich.«
Umfrage Eine Ende Oktober publizierte repräsentative Umfrage des Jüdischen Weltkongresses (WJC) hatte ergeben, dass jeder vierte Deutsche antisemitisches Gedankengut hegt. Für Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Laschet sind diese Umfragewerte ein Alarmsignal. »Die Zahlen zeigen, wie tief verwurzelt der Judenhass in unserer Gesellschaft ist«, sagte der CDU-Politiker. »Der Antisemitismus war nach 1945 ja nicht einfach verschwunden. Er existierte im Gegenteil immer weiter und wurde durch die Zuwanderung facettenreicher.« Laschet sprach sich für ein energischeres Durchgreifen des Staates bei antisemitischer Hassrede aus. »Die Gerichte müssen viel stärker als bisher den Kontext, in denen entsprechende Aussagen getätigt werden, berücksichtigen«, sagte er.
Auch Zentralratspräsident Schuster kritisierte, dass die Strafverfolgungsbehörden in Deutschland oft zu nachsichtig seien, und rief zu mehr Zivilcourage in der Gesellschaft auf. »Jeder von uns wird es im Alltag wahrscheinlich schon einmal erlebt haben, dass beim Stammtisch, beim Treffen mit Freunden oder Verwandten sogenannte Judenwitze erzählt wurden«, sagte er: »Wenn man dem anderen genau in diesen Situationen den Spiegel vorhält, anstatt zu schweigen, kann das schon eine Menge bewirken.«
Solidarität So eindeutig die Ablehnung des Antisemitismus auf dem Podium auch war, so unklar war zugleich die Antwort auf die Frage nach der richtigen Reaktion darauf. Zwar sei eine große Solidarität mit den Juden in der Gesellschaft sichtbar, meinte Kardinal Marx. Doch den »harten Kern« der Antisemiten könne man damit nicht erreichen. Zugleich zeigte sich der Erzbischof von München und Freising »immer wieder überrascht über das Unwissen in den eigenen Reihen«.
Deshalb müssten sich Christen immer wieder neu befragen im Hinblick auf die »religiöse Komponente« des Antisemitismus, den jahrhundertelangen Antijudaismus in der Kirche. »Jesus war Jude und ist es bis zu seinem Tod geblieben, er ist nicht katholisch geworden«, so der Kardinal. Dies sei auch 50 Jahre nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962–1965) »offenbar noch nicht für alle selbstverständlich«.
Schuster fügte hinzu, vom traditionellen Christentum sei in der Mehrheitsgesellschaft »nur noch der Antisemitismus übrig geblieben«. Ähnlich äußerte sich Armin Laschet. Auch in anderen europäischen Ländern wie Polen oder Ungarn würden solche Traditionselemente bevorzugt »von Leuten aufgegriffen, die ihre eigene Religion überhaupt nicht mehr kennen«.
Israel Der kirchliche Antijudaismus ist nach Ansicht von Rabbiner Soussan allerdings allenfalls ein Zweig des heutigen Antisemitismus. In der Gegenwart sei etwa ein Israel-bezogener Antisemitismus verbreitet: Von einer legitimen Kritik an der Politik Israels unterscheide sich dieser durch Doppelstandards (heftigere Kritik an Israel als an anderen Ländern) sowie die Delegitimierung und Dämonisierung des jüdischen Staates.
Was sogleich in der Diskussion zur Wortmeldung einer jungen Frau führte, die sich dagegen verwahrte, als Antisemitin zu gelten, wenn sie »als Christin« Israel kritisiere. An Soussan gerichtet, meinte sie weiter, auch er müsse doch Kritik an den Verhältnissen »in Ihrem Land« als legitim erachten. Unter großem Beifall machte Josef Schuster sie darauf aufmerksam, dass Soussan ebenso wie er selbst deutscher und nicht etwa israelischer Staatsbürger ist. (mit kna)