Die Gemara im Traktat Jewamot 49b beschreibt die Ereignisse, die zum Tod des Propheten Jeschajahu geführt haben. König Manasse habe Jeschajahu als einen falschen Zeugen verurteilt, weil dieser Aussagen gemacht habe, die der Tora widersprachen, und ließ ihn danach töten. König Manasse habe zu Jeschajahu gesagt: Mosche, dein Herr, sagte in der Tora: »Du kannst mein Angesicht nicht sehen, denn der Mensch kann mich nicht sehen und leben« (2. Buch Mose 33,20), und doch sagtest du (Jeschajahu): »Ich sah den Herrn sitzen auf einem hohen und erhabenen Thron« (Jeschajahu 6,1).
Und obwohl Mosche gesagt habe: »Denn welches große Volk gibt es, das Götter hätte, ihm so nahe, wie der Ewige, unser Gʼtt, wann immer wir zu Ihm rufen?« (5. Buch Mose 4,7), habe Jeschajahu gesagt: »Suche den Ewigen, solange Er zu finden ist, und rufe Ihn, solange er nahe ist« (Jeschajahu 55,6). Demnach wäre Gʼtt nicht immer nahe. Der König habe daraufhin zu Jeschajahu gesprochen. Mosche sagte: »Ich werde die Zahl deiner Tage erfüllen« (2. Buch Mose 23,26) – was bedeutet, dass jeder Einzelne eine vorherbestimmte Lebenszeitspanne habe und nicht länger leben könne als diese. Doch Jeschajahu habe in einer Prophezeiung zu König Chiskijahu gesagt: »Und ich will deinen Tagen 15 Jahre hinzufügen« (2. Könige 20,6).
Jeschajahu soll entgegnet haben, dass er Manasse kenne und wisse, dass der König keine Erklärung, die er (Jeschajahu) ihm bieten werde, akzeptiere. Daraufhin rief er einen der gʼttlichen Namen aus und wurde von einer Zeder verschlungen. Manasses Diener sägten sie durch, um Jeschajahu zu töten. Als die Säge seinen Mund erreichte, starb er, und zwar genau in dem Moment, als er sagte: »Inmitten eines Volkes mit unreinen Lippen wohne ich« (Jeschajahu 6,5). Er wurde bestraft, weil er sich abfällig über das jüdische Volk geäußert hatte.
König Manasse betonte, Jeschajahus Worte widersprächen den Worten Mosches. Wie aber lässt sich dies lösen, fragt der Talmud. Der Satz »Ich sah den Ewigen« ist so zu verstehen, wie es in einer Baraita gelehrt wird. Alle Propheten beobachteten ihre Prophezeiungen durch ein vernebeltes Glas. Ihre Prophezeiungen sind daher als metaphorische Visionen zu verstehen, also keine direkte Wahrnehmung der Prophezeiung.
Mosche hingegen beobachtete seine Prophezeiungen durch ein klares Glas, weshalb ihm eine direkte und genaue Wahrnehmung möglich war – so löst der Talmud den ersten Widerspruch auf.
Ebenso den zweiten. Denn Jeschajahus Prophezeiung »Sucht den Ewigen, solange er gefunden werden kann« widerspricht nicht dem Vers in der Tora, dass Gʼtt seinem Volk nahe ist, »wann immer wir zu Ihm rufen«. Jeschajahus Prophezeiung beziehe sich nämlich auf den Einzelnen, während sich der Vers in der Tora aber auf eine Gemeinschaft beziehe, deren Gebet immer angenommen wird.
Die Lösung des dritten Widerspruchs aus dem Vers »Ich werde die Zahl deiner Tage erfüllen« ist Gegenstand eines Streits zwischen unseren Weisen, wie es in einer Baraita gelehrt wird. Darin heißt es: »Ich werde die Zahl deiner Tage erfüllen.« Mit »deiner Tage« sei die zugeteilte Lebenszeit gemeint, die jedem Einzelnen vor der Geburt vorherbestimmt ist. Wenn der Einzelne es verdient, vollende Gʼtt die ihm zugeteilte Zeitspanne. Wenn er es nicht verdient, falle diese kürzer aus. Dies ist die Aussage von Rabbi Akiva. Er geht davon aus, dass man nicht über die vorgegebene Zeitspanne hinaus leben kann.
Die Rabbiner des Talmuds sagen: Wenn man es verdient, verlängert Gʼtt die Zeitspanne um Jahre. Wenn man es nicht verdient, ist sie entsprechend kürzer. Ihnen zufolge bezieht sich Jeschajahus Prophezeiung auf jemanden, der es verdient habe, zusätzliche Jahre zu seiner Lebensspanne zu erhalten. Der Vers in der Tora beziehe sich jedoch auf jemanden, der es verdient habe, seine Lebensspanne lediglich zu vollenden.