Am Ende unseres Wochen abschnitts erfahren wir von der Sünde und Bestrafung eines G’tteslästerers: »Und der Sohn einer Israelitin – er war aber der Sohn eines Ägypters – ging hinaus mitten unter die Kinder Israels, und dort im Lager geriet der Sohn der Israelitin mit einem Israeliten in Streit. Da lästerte der Sohn der Israelitin den G’ttesnamen und fluchte (...). Alle, die es gehört haben, sollen sich mit den Händen auf seinen Kopf stämmen, und die ganze Gemeinde soll ihn steinigen« (3. Buch Mose 24, 10–11,14).
Die Frage drängt sich auf: Wie konnte jemand, der die zehn Plagen, die Spaltung des Schilfmeers und schließlich die Offenbarung G’ttes am Berg Sinai miterlebt hatte, dessen Alltag in der Wüste von täglichen Wundern begleitet wurde, zu einem solchen Vergehen imstande sein?
Midrasch Der mittelalterliche Kommentator Raschi (1040–1105) zitiert hier den Midrasch, der die einleitenden Worte der Passage auslegt: »Er ging hinaus. Von wo ging er hinaus? Rabbi Levi sagte: Er ging aus seiner Welt hinaus.« Rabbi Levi lehrt uns, das hier nicht etwa das Ergebnis der im Folgenden geschilderten Ereignisse beschrieben wird. Vielmehr ist dies der Ausgangspunkt des Geschehens: Der Mensch verließ seine Welt, und so nahm das Verhängnis seinen Lauf. Was genau aber haben wir uns unter dem Begriff der »Welt« eines Menschen vorzustellen?
Jedem Ding ist in der Welt ein seinem Wesen entsprechender Ort zugedacht (Pirkej Awot 4,3). Gemeint ist nicht die geografische Lage oder ein räumlicher Zusammenhang, sondern sein geistiger Ort. Dieser ergibt sich aus dem ihm zugewiesenen Sinn und Zweck, der eigentlichen Bestimmung seines Daseins. Für den Menschen verbindet sich damit eine besondere Aufgabe, die er nur an seinem »Ort« erfüllen kann. Er muss seinen Ort erkennen (6,6), ihn in Besitz nehmen und ausfüllen.
Die Welt, die er an diesem Ort errichtet, ist »seine Welt«. Sie stellt die Erfüllung seiner individuellen Aufgabe und Verwirklichung seines Lebensinhalts dar. Es ist dies die Welt, in die der Mensch nach Vollendung seines Lebenswerkes einkehrt (Wajikra Raba 18,1). »Der Mensch geht in seine Welt ein« (Kohelet 12,5). Sein Leben ist die Reise dorthin.
entfremdung Als sich der Sohn der Israelitin der G’tteslästerung schuldig machte, war er zuvor in einen Streit mit dem im Vers erwähnten Israeliten geraten. Dieser hatte ihm versagt, sein Zelt unter den Zelten seines Stammes aufzuschlagen. Die Stammeszugehörigkeit folgt dem Vater, und er war doch der Sohn eines Ägypters.
Der Fall wurde im Gerichtshof von Mosche angehört und zugunsten der Gegenseite entschieden (Raschi, 3. Buch Mose 24,10). Mit einem Mal wurde dem Sohn der Israelitin bewusst, dass er – obwohl jüdisch – keinem der Stämme Israels angehörte. In diesem Moment verlor er das Gleichgewicht und fühlte sich seiner bisherigen Welt vollkommen entrissen, war nicht »bei sich«. Seinem vermeintlichen Ort entfremdet, orientierungslos und ohne jeden geistigen Halt war er zum schlimmsten aller Vergehen imstande.
Was aber wäre diesem plötzlichen Sturz in den geistigen Abgrund der Sinnlosigkeit entgegenzusetzen gewesen? Die Selbstbesinnung. Innezuhalten, um zu sich selbst zurückzufinden, seinen eigenen Ort so zu erkennen, wie er wirklich ist. Dabei ist es gleich, ob man sich seine Welt genauso vorgestellt hat oder sich lieber eine andere gewünscht hätte. Die Verwirklichung des Selbst ist nur in der eigenen Welt zu finden, nicht in der eines anderen Menschen.
Einer der großen chassidischen Meister, Rabbi Menachem Mendel Morgensztern von Kozk (1787–1859), lehrte: »Wenn ich ich bin, weil du du bist und du du bist, weil ich ich bin, dann bin ich nicht ich und du bist nicht du.«
Sich über einen anderen Menschen zu definieren, würde bedeuten, dass weder die eigene Aufgabe noch die des anderen erfüllt wäre.
Die wahre Herausforderung ist, sich seiner eigenen Bestimmung zu verschreiben; mit allen Stärken, Schwächen, Fähigkeiten und Benachteiligungen, die einem der Schöpfer hierfür beschieden hat. Alles hat seinen Sinn, ein jedes Ding seinen Ort.
schaubrote Der eingangs von Raschi angeführte Midrasch fügt der Erklärung von Rabbi Levi noch eine weitere hinzu: »Rabbi Berachja sagte: Er verließ den vorhergehenden Abschnitt.«
Demnach war der Ausgangspunkt für die G’tteslästerung die unmittelbar vorangestellte Abhandlung der Schaubrote.
Die wöchentliche Opfergabe der Schaubrote sollte jeden Schabbat hergerichtet werden (3. Buch Mose 24,8). Dabei würden die Brote jeden Schabbat diejenigen der vorhergehenden Woche ersetzen. Es war diese Vorschrift, die der G’tteslästerer aufs Korn nahm: »Einem gewöhnlichen König wird täglich frisches Brot gebracht, im Heiligtum aber wird neun Tage altes Brot serviert?«
Der Sinn der Erklärung von Rabbi Berachja ist unmittelbar mit der von Rabbi Levi verwoben. Schabbat ist der Tag, an dem der Mensch innehält, sich auf seinen Schöpfer und den Zweck seines Daseins besinnt. Es ist dies die Quelle des Segens, aus der er sich die Woche über nährt und ständig neue Kraft schöpft.
Die Schaubrote verkörperten diesen ständigen Bund und waren am Ende der Woche genauso frisch, wie sie am Schabbat zuvor hergerichtet wurden (Talmud, Joma 21a).
Ein Mensch, der den Schabbat jedoch nicht als die Erneuerung der persönlichen Verbindung zur Quelle erlebt, wird sich in der Hast des Alltags bald seines geistigen Ortes entrückt und sich selbst entfremdet finden.
Rabbi Mosche Chaim Luzzatto (1707–1746) vergleicht das Verhängnis der ununterbrochenen Arbeit und ständigen Ablenkung mit der Strategie des Pharaos: »›Erschwere die Arbeit der Männer‹ (2. Buch Mose 5,9). Seine Absicht war es, den Juden keine Zeit zu lassen, sich ihm (dem Pharao) zu widersetzen oder einen Plan gegen ihn zu entsinnen. Er bemühte sich, sie durch unablässige Arbeit jeder Überlegung unfähig zu machen« (Mesilat Jescharim, Kapitel 2).
Ob Pharao heute den Juden kostenlose Handyverträge mit unbegrenztem Datenvolumen anbieten würde, sei dahingestellt. Tatsache ist, dass die vollkommene Vernetzung und der ununterbrochene Informationsfluss es dem Menschen nicht gerade leicht machen, zu sich zu kommen und sich auf seine innere Welt zu besinnen. Am Schabbat ist die geistige Verbindung jedoch ungestört – eine Flatrate zwischen dem Menschen und G’tt.
Der Autor lehrt an der Yeshivas Toras Simcha in Baltimore.
Inhalt
Am Anfang des Wochenabschnitts Emor stehen Verhaltensregeln für die Priester und
für ihre Nachkommen. Ferner wird
beschrieben, wie die Opfertiere beschaffen sein müssen. Außerdem werden kalendarische Angaben zu den Feiertagen gemacht: Schabbat, Rosch Haschana, Jom Kippur und die Wallfahrtsfeste Pessach, Schawuot und Sukkot werden festgelegt. Gegen Ende des Wochenabschnitts wird schließlich erzählt, wie ein Mann den Namen G’ttes ausspricht und für dieses Vergehen mit dem Tod bestraft wird.
3. Buch Mose 21,1 – 24,23