Draußen: Berliner Regen. Drinnen: Gemütlich.» – «Gefällt mir.» – «Und du?» – «Mache es mir auch gemütlich: Hole mir ein gutes Buch.» – «Gefällt mir.» – «Was liest du?» – «Hundert Jahre Einsamkeit.» – «Gefällt mir.» Das Interessante an dieser digitalen Unterhaltung auf Facebook: Es handelt sich um ein Ehepaar, das sich da austauscht.
Beide sind zu Hause, wohl im selben Zimmer. Beide mitnichten einsam, denn sie sind ja zusammen, und noch mehr: Die ganze Welt kann zuschauen. Beide Juden mittleren Alters, beide gebildet. Schöne neue Zeit. Gemeinsam und doch getrennt. Sich ansprechen, in die Augen schauen, dem anderen zuhören, das wird seltener. Umso mehr wird auf das Smartphone geblickt. Alles nur noch virtuell. Emojis ersetzen Gefühle. Alles so beliebig, so ohne Takt, so schnell.
hygge Doch seit einiger Zeit scheint es eine Gegenbewegung zu geben. Und für die gibt es jetzt sogar eine eigene Zeitschrift, «Hygge», mit einer Auflage von 250.000 Exemplarenvor Kurzem gestartet. Das Blatt soll, so der Verlag, wieder Ruhe, Gemeinsamkeit und Glück vermitteln.
Die Dänen haben dafür ein eigenes Wort: «hygge». Das Wort steht für Gemeinschaftsgefühl und die Freude an den kleinen Dingen in einer immer hektischeren Welt. Es umfasst Gemütlichkeit, Freundschaft, Gastfreundschaft, Zufriedenheit; insgesamt ein kuscheliges Lebensgefühl. Eine Art Schabbat. In Dänemark ist das wohl das Nationalgefühl. Und die Dänen sind laut Statistik das glücklichste Volk auf Erden.
In unserer digitalen Welt leben nationale Mentalitäten der politischen Korrektheit zum Trotz munter weiter. Die dänische Spielart – «hygge» – passt nun gerade gut als Gegengewicht zu unserer digitalen Zeit, die geprägt ist von Erwartungsdruck und raschen Veränderungen.
facebook Ein Gegengewicht aus Spazierengehen, Freunde treffen, zusammen im See schwimmen, in der Hängematte in den Himmel schauen und sich die Meeresbrise oder den Waldgeruch um die Nase wehen lassen. Hat man früher auch getan, bloß ohne es auf Facebook zu posten. Als reales Gegengewicht zur digitalen Welt wird das Gefühl gerade dann erlebbar, wenn solche Kleinigkeiten so groß werden, dass sie nicht gepostet werden müssen. Dann kommt die beruhigende Konstante endlich ins Spiel, nach der man sich in einer sich immer schneller drehenden Welt sehnt.
Im Judentum ist es der Schabbat, der diese Konstante bietet. Schabbat gibt es nur im realen, nicht im virtuellen Leben. Damit hört der Unterschied aber nicht auf. Das Judentum ist durchtränkt, ja geradezu besessen von einer Welt, in der Gewichte und Gegengewichte sich ausgleichen, wie «Yin» und «Yang». Es geht weiter mit dem Konzept, zwischen jeweils zweierlei zu unterscheiden: zwischen den Bereichen heilig und profan, zwischen Israel und den Völkern, zwischen Licht und Dunkelheit. Am Ende des Schabbats wird in einer gemütlichen Zeremonie («Hawdala», Unterscheidung) darauf hingewiesen.
Es geht aber noch weiter. Bekanntlich wird zwischen milchig und fleischig unterschieden. Zwischen Mann und Frau gibt es Unterschiede, daher führen sie einige Gebote jeweils unterschiedlich aus. Der Unterschied zwischen Privatrecht und öffentlichem Recht wurde im Judentum erstmals schriftlich festgehalten.
privatsphäre Wir leben in einer Welt, in der sich die Grenzen zwischen Öffentlichkeit und Privatsphäre verschieben. Das Judentum hat schon immer durch unsere Gebote darauf hingewiesen, Grenzen zu achten. Es gibt sogar Verbote eines Vermischens von zweierlei Materialien. Im Talmud widmet sich das Traktat Kilajim («zweierlei») diesen Unterscheidungen. Warum das alles? Warum ständig unterscheiden müssen?
Hier zeigt sich unser Judentum von einer äußerst interessanten Seite. Was bei oberflächlicher Betrachtung irrational erscheint, ist bei näherem Hinschauen genau das Gegenteil. Das Rationale gilt seit der Aufklärung als erstrebenswertes Ideal, mithin als Grundlage für richtiges Entscheiden. Entscheidungen auf emotionaler Basis sind demnach rückständig, erst recht, wenn es um wissenschaftliche Erkenntnisse geht.
Steckt dann etwa die Neurologie als Wissenschaft in einem Dilemma mit ihren empirischen Erkenntnissen, dass wir Menschen nach wie vor emotional und nach eingeübten Mustern entscheiden? Im Gegenteil: Vernunftbegabt zu entscheiden, kann gelernt und eingeübt werden, auch und gerade über unsere emotionalen Entscheidungsmuster. Deswegen die ständige Differenzierung, die das Judentum durch die Gebote empfiehlt. Wer dieser Empfehlung folgt, lernt zu differenzieren und wird in die Lage versetzt, besser abwägen und entscheiden zu können. Eine wunderbare Lebenshilfe.
unterscheidung Schließlich besteht das Leben aus einer Kette von Entschlüssen. Das Judentum will uns dabei helfen, die richtigen zu treffen – indem wir zuerst richtig unterscheiden. Sprachlich fällt das gerade im Deutschen auf: Unterscheidung geht Entscheidung voraus. Das Emotionale hilft dann dem Rationalen. Das Ideal der Aufklärung, das Rationale, lässt sich mithin durch sein Gegenteil erreichen.
Nun gibt es bestimmt mehr Juden, die mehr von Yin und Yang gehört haben als von Hawdala oder gar vom Traktat Kilajim. Letztendlich geht es um Harmonie, um Ausgleich, Gleichgewicht. Aus jüdischer Sicht ist Harmonie allerdings nur dann erreicht, wenn etwas dafür getan wird: differenzieren und die richtigen Entscheidungen treffen. Erst dadurch kann Harmonie erreicht werden – die jüdische Variante von hygge. Schön ist dann die Vorstellung, dass es sich das Ehepaar gemütlich und hyggelig machen kann. Schön, dass die beiden es der ganzen Welt mitteilen können. Schön, dass sie es nicht müssen. Es ist ihre Entscheidung.
Der Autor ist Rabbiner der Budge-Stiftung in Frankfurt/Main.