»Als Adam, der erste aller Menschen, (nach seinem Auszug aus dem Garten Eden im Herbst) die Länge der Tage nach und nach abnehmen sah, sprach er: ›Wehe mir, vielleicht wird die Welt nun, da ich mich vergangen habe, finster werden und zurück in Tohu und Bohu fallen. Das muss wohl der Tod sein, der vom Himmel her über mich verhängt worden ist!‹ Da stand er auf und verweilte acht Tage im Fasten. Als aber die Jahreszeit des Tewet (zur Zeit der Wintersonnenwende) einsetzte und er sah, wie die Tage nach und nach wieder länger wurden, sprach er (erleichtert): ›Es ist schlicht der Lauf der Welt!‹ So ging er denn und veranstaltete acht Festtage« (Awoda Sara 8a).
Der Umstand, dass Adam und Chawa dem Buch Bereschit zufolge eher plötzlich in die Welt einzutreten scheinen, ohne dass sie von anderen Menschen hätten lernen können, hat die Ausleger, sowohl innerhalb als auch außerhalb der jüdischen Tradition, zu vielen Fragen über das Wesen des Menschen gereizt. Einige davon betreffen anatomische Aspekte (zum Beispiel, ob das erste Menschenpaar als Ungeborene Bauchnabel besaß), während andere sich damit beschäftigen, über welches Wissen die beiden verfügen konnten.
Ein Beispiel für Letzteres ist die Frage, die der Philosoph David Hume (1711–1766) aufwirft, ob der Urmensch beim erstmaligen Anblick von fließendem Wasser bereits hätte wissen können, dass diese Flüssigkeit ihn zu ernähren vermochte.
Adam war verunsichert über die Veränderungen am Himmel
Unsere Weisen erzählen uns in der talmudischen Anekdote, dass Adam unter Deutungsschwierigkeiten litt, was die Veränderungen am Himmel und der Tageszeiten angeht, denn er konnte nicht auf die Schätze des kollektiven Menschheitsgedächtnisses zurückgreifen.
Ja, allein der Versuch, die kosmischen Bewegungen einzuordnen, stürzte ihn in existenzielle Zweifel. Doch glücklicherweise lernte er schnell dazu und verstand, dass das Kürzerwerden der Tage und ihre anschließende Verlängerung im Laufe eines Jahres Naturgegebenheiten sind.
Doch welche Bedeutung misst unsere Tradition der Einteilung des Jahres in Abschnitte zu? Tatsächlich finden wir in rabbinischen Texten verschiedene Wege, die zyklischen Kreise der Zeit kalendarisch zu gliedern. Die gängigste Methode unterteilt das Jahr in zwei Hälften: den Sommer (die Tage der »Chama«, der Sonne) und den Winter (die Tage der »Geschamim«, des Regens).
Die beiden Eckpunkte sind die Monate Nissan und Tischri
Die beiden Eckpunkte, an denen diese Hälften beginnen und enden, sind der Monat Nissan mit dem Pessachfest, zu dem die Erntezeit einsetzt, und der Monat Tischri mit dem Sukkotfest, an das sich die Pflug- und Saatzeit anschließt.
Da das Jahr also zwei Seiten aufweist, die einander zu spiegeln scheinen, verbinden unsere Weisen mit ihnen auch parallele Ereignisse sowohl aus der Geschichte wie auch aus der Zukunft des jüdischen Volkes. So wird etwa darüber diskutiert, ob die Welt im Monat Nissan oder im Monat Tischri erschaffen wurde und ob die künftige Geʼula, die messianische Erlösung, im Nissan oder im Tischri stattfinden wird. Doch kennt die Überlieferung eben auch eine zusätzliche Einteilung des Jahres, welche die Wendepunkte der Sonne, ihre Höchst- und Niedrigststände um den 21. Dezember und den 21. Juni berücksichtigt. Durch die Verbindung beider Systeme entstehen insgesamt vier Jahreszeiten, die auf Hebräisch Tekufat Nissan (Frühling), Tekufat Tamus (Sommer), Tekufat Tischri (Herbst) und Tekufat Tewet (Winter) genannt werden.
Diese Jahreszeiten mit ihren dazugehörigen astronomischen sowie meteorologischen Merkmalen zu erforschen, hatte aber nicht nur für den ersten Menschen eine Bedeutung, sondern behält diese auch für alle seine Nachkommen. So sagte Rabbi Jonathan im Talmudtraktat Schabbat (75a): »Woher wissen wir, dass es den Menschen geboten ist, die Jahresabschnitte und die Sternzeichen zu berechnen? Denn es heißt: ›Dies ist eure Weisheit und eure Wissenschaft in den Augen der Völker‹« (5. Buch Mose 4,6).