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Forschung

Ist die »Gen-Schere« koscher?

Genomchirurgische Operationen könnten die Medizin revolutionieren. Es drohen aber auch massive Eingriffe ins Erbgut

von Stephan Probst  26.10.2016 13:41 Uhr

Manche Rabbiner vergleichen das Einschleusen fremden Erbguts mit der laut Tora verbotenen Mischung von Leinen und Wolle. Foto: Thinkstock

Genomchirurgische Operationen könnten die Medizin revolutionieren. Es drohen aber auch massive Eingriffe ins Erbgut

von Stephan Probst  26.10.2016 13:41 Uhr

Die französische Biochemikerin und Genetikerin Emanuelle Charpentier, die seit Oktober 2015 am Berliner Max-Planck-Institut für Infektionsbiologie forscht, erhielt im Dezember 2015 zusammen mit ihrer amerikanischen Kollegin Jennifer Dounda den mit drei Millionen Dollar für jeden Preisträger dotierten »Breakthrough Prize in Life Sciences«. Diese und viele weitere Auszeichnungen bekamen die beiden Forscherinnen mit ihrer Arbeitsgruppe für die Entwicklung der sogenannten CRISPR/Cas9-Technik.

Es handelt sich dabei um ein Verfahren, bei dem mittels einer »molekularen Schere« genomchirurgische Eingriffe von bislang nicht gekannter Präzision möglich geworden sind. CRISPR steht für Clustered Regularly Interspaces Short Palindromic Repeats, womit besondere, sich wiederholende DNS-Abschnitte gemeint sind. Mithilfe bestimmter Proteine kann das Erbgut innerhalb dieser DNS-Abschnitte biochemisch zerschnitten und nachfolgend verändert werden.

»Genome Editing« »Fehlerhafte« Gene können somit herausgeschnitten und eliminiert werden. Die Methode erlaubt, die entfernten Gene durch andere Gene zu ersetzen. Je nach Wunsch können auch einfach Erbinformationen ganz neu hinzugefügt werden. Dieses Verändern des Erbgutes nennen Wissenschaftler »Genome Editing«.

Die Fachwelt spricht in Bezug auf die CRISPR/Cas9-Methode nicht nur von einem anstehenden Paradigmenwechsel, sondern sieht in der Technik einen Quantensprung, der als entscheidende Entdeckung des 21. Jahrhunderts Medizin und Biowissenschaften revolutionieren wird. Nie zuvor gelang es so zuverlässig und gleichzeitig recht kostengünstig, die Gensequenz, also das Erbgut lebender Zellen – egal, ob bei Pflanzen, Tieren oder Menschen – zu verändern. Diese Veränderungen gelingen, ohne im veränderten Erbgut molekulare Spuren des Eingriffs zu hinterlassen, ganz so, als handelte es sich um natürliche Neumutationen.

Mit viel Euphorie wird die Hoffnung geäußert, es könnten nun bald krankheitsauslösende Genmutationen genomchirurgisch behandelt und somit bislang unheilbare Krankheiten geheilt werden. Wie viel Hype sich im Moment in die Hoffnung mischt, ist nicht einfach auszumachen. Jedoch wird durch die CRISPR/Cas9-Methode ohne Zweifel und unaufhaltsam eine neue Epoche in der Medizin sowie in der Tier- und Pflanzenzüchtung eingeläutet.

Krebsimmuntherapie Die gezielte Veränderung des menschlichen Erbguts durch den Menschen gilt schon länger als wissenschaftlich vorstellbar. Jetzt ist sie tatsächlich machbar, und das mit relativ geringem technischem Aufwand. Im Juni dieses Jahres erlaubte eine Ethikkommission in den USA die Anwendung des Verfahrens im Rahmen erster In-vitro-Versuche in der Krebsimmuntherapie beim Menschen. Wie ist diese Entwicklung aus Sicht jüdischer Ethik zu beurteilen?

Die bereits in früheren theoretisch-ethischen Diskussionen gestellten Fragen und vor allem halachischen Überlegungen, die sich mit dem Eingriff in das menschliche Genom ergeben, erfahren nun eine andere Dimension. Sie werden plötzlich sehr konkret und drängend. Hoffentlich wird dies in seiner immensen Bedeutung erkannt und von einer gesellschaftlichen Debatte –auch in der jüdischen Welt – so begleitet, dass die Anwendung der Methode verantwortlich gestaltet werden wird.

Tatsächlich könnte sehr bald durch diese Technik ganz und gar künstlich geschaffenes oder verändertes Leben möglich werden. Wahrscheinlich wird dies in den Labors schneller machbar sein, als man sich in Politik, Gesellschaft und innerhalb der Religionen mit sozialen, rechtlichen, moralischen und der für uns wichtigen Frage, ob dies überhaupt halachisch erlaubt sei, auseinandergesetzt hat.

Pikuach Nefesch Solange mit Genome Editing und der dadurch im Idealfall ermöglichten Heilung von Krankheiten ein Vorteil für den Menschen versprochen werden kann, wird dies von den Poskim in medizinethischen Fragen erwartungsgemäß begrüßt und gutgeheißen werden. Sie werden darin die Verwirklichung des Auftrags sehen, Leben zu retten (Pikuach nefesch) und sich die Welt zunutze zu machen (1. Buch Mose 1,28).

Wenn es um die Möglichkeit geht, Krankheiten zu heilen oder gar Leben zu retten, werden kritische halachische Diskussionen oft sehr verkürzt. Das Gebot, Leben zu retten, steht über fast allem. Gelingt es, durch Genomchirurgie die Bildung fehlender Enzyme bei der Tay-Sachs-Erkrankung wieder zu ermöglichen oder defekte Gene, die der Bluterkrankheit oder der Huntingtonschen Krankheit zugrunde liegen, zu reparieren, wird jedes technische Verfahren, das dies vermag, die Zustimmung der Rabbiner finden.

Der 2004 verstorbene Rabbiner Azriel Rosenfeld schrieb 1972 in einem damals noch sehr abstrakt reflektierenden Artikel über Gendesign, dass jede Genomchirurgie außerhalb halachischer Beurteilung liege, da sie im submikroskopischen Bereich stattfinde und mit dem menschlichen Auge nicht wahrnehmbar sei.

Doch die Genomchirurgie mit CRISPR/ Cas9 kann nicht uneingeschränkt und unkritisch als risikoarme Behandlung zur Vorbeugung oder Heilung von Krankheiten oder als bloß im submikroskopischen Bereich liegendes Verfahren gesehen werden. Durch sie sind auch Keimbahnveränderungen möglich, die nicht nur das behandelte Individuum selbst betreffen, sondern auch Folgen für künftige Generationen seiner Nachkommen haben können.

Schatnezverbot Rabbiner Moshe Hershler warnte bereits vor 35 Jahren, lange bevor an die Möglichkeiten von CRISPR/Cas9 zu denken war, vor den Gefahren einer Genomchirurgie, über die damals nur hypothetisch und spekulativ diskutiert wurde. Er sprach dabei das Risiko an, dass Fehlversuche auch Leben in Gefahr bringen können, und verglich das Einschleusen fremden Erbguts mit dem in der Tora verbotenen Vermischen von Leinen und Wolle (Schatnezverbot, 3. Buch Mose, 19,19). Diese Argumentation lehnten jedoch die halachischen Autoritäten Shlomo Zalman Auerbach und Yehoshua J. Neuwirth ab.

An Elemente der Hershlerschen Argumentation erinnert man sich, wenn man im Deutschen Ärzteblatt vom 22. August 2016 in einem Artikel von genomchirurgischen Experimenten chinesischer Forscher der Sun-Yat-sen-Universität in Guangdong liest. Sie hatten die CRISPR/Ca9s-Technik bei 86 Embryonen angewandt, um bei ihnen ein schadhaftes Gen zu reparieren, das zur Thalassämie, einer Blutkrankheit, führt. Das Experiment glückte nur vier Mal, aber bei 28 Embryonen fanden die Forscher später unbeabsichtigte Veränderungen des Erbgutes, sogenannte »Off-Target-Effekte«.

Keimbahneingriffe Findet die Gentherapie nicht nur an somatischen Zellen, sondern auch an Keimbahnzellen statt, werden die unbeabsichtigten Veränderungen auf die Nachkommen übertragen. Die Technik wirkt noch unreif, weswegen auch einige deutsche Forscher und säkulare Ethiker ein Moratorium zumindest für Keimbahneingriffe fordern. Namhafte Ärzte plädieren dafür, dass die Medizin Alternativen zum Genome Editing nutzen sollte, die mit der Präimplantationsdiagnostik und der Stammzelltransplantation zur Verfügung stehen und etabliert sind.

Es geht um biologische Sicherheit – und um den Schutz von Patientinnen und Patienten. Solange die Folgen für künftige Menschen nicht vorhersehbar und beherrschbar sind, sind Versuche am Menschen unethisch. Eine völlig risikofreie Technik kann es in biologischen Systemen nie geben, weder bei der Anwendung am Menschen in der Medizin noch in der Tier- und Pflanzenzüchtung.

Enhancement Es gibt aber nicht nur Sicherheitsrisiken. Der Schritt von der sinnvollen medizinischen Anwendung bei der Heilung von Krankheiten im Sinne einer Therapie hin zum sogenannten Enhancement, dem Einfügen »besserer« Gene, ist klein. Bessere oder bislang nicht in den Erbanlagen der Eltern vorhandene Eigenschaften können mit dieser Methode »genomchirurgisch« eingebaut werden, wenn man es nur möchte. Nicht nur krankheitsauslösende Gendefekte können behandelt, auch die genetische Konstitution von Nachkommen, deren Augenfarbe, mutmaßliche Intelligenz, Körpergröße, Haarfarbe und so weiter können mit der Genomchirurgie beeinflusst werden.

Letzteres kann nicht mehr mit dem Bezug auf Pikuach Nefesch gerechtfertigt werden, sondern es wäre das Konstruieren und Produzieren eines Menschen nach einem von Menschen entworfenen Bauplan. Wegen der nun erreichten Einfachheit des Genome Editings werden sich solche Entwicklungen wohl nur schwer aufhalten lassen – und könnten bald von skrupellosen Laboratorien in Ländern, die das Verfahren unkritisch zulassen, angeboten werden.

2014 veröffentlichte der Bioethiker John Loike zusammen mit Rabbiner Moshe Tendler einen Vergleich säkular-medizinethischer Diskussionen mit halachischen Erwägungen über genetische Testverfahren und Möglichkeiten des Genome Editing. Dabei wurde klar, dass das CRISPR/Cas9-Verfahren auch für verbindliche halachische Einordnungen noch zu unausgereift erscheint und die derzeit von Experten formulierten Sicherheitsbedenken das Genome Editing allenfalls bei sonst unheilbaren und zwangsläufig tödlich verlaufenden Erkrankungen rechtfertigen, für die es keine etablierte Therapie gibt.

In allen anderen Situationen – vor allem im Falle des Enhancement – haben die Autoren gleichermaßen gravierende säkular-medizinethische wie halachische Bedenken. Zu unsicher ist es, derzeit eine zuverlässige Einschätzung aller Folgen der Methode abzugeben. Jede Methode sollte nicht vorrangig danach beurteilt werden, ob sie machbar, sondern ob sie ethisch, moralisch oder halachisch erlaubt ist. Wie so oft in Medizin und Biowissenschaften gilt, dass etwas nicht deswegen richtig ist, weil es machbar ist.

Midrasch Tendler erwähnt in diesem Zusammenhang einen Midrasch (Midrasch Rabba zum 1. Buch Mose 1,1), der der Frage nachgeht, warum der Bericht von der Erschaffung der Welt mit dem zweiten Buchstaben des Alefbets, also mit »Bet« und nicht mit »Alef«, beginnt (»Bereschit bara Elohim …«). Der Midrasch gibt die Antwort, dass Haschem den Buchstaben Alef für den Beginn der Offenbarung der »Asseret HaDibrot«, der Zehn Gebote, vorbehalten hatte (»Anochi …«).

Die moralische Botschaft dieses Midrasch ist die behutsame Warnung, dass die Offenbarung der moralischen Werte und der halachischen Verpflichtungen über dem menschlichen Bedürfnis steht, die Offenbarung des Irdischen zu suchen, indem man das Irdische erforscht und versucht, es weiterzuentwickeln und zu beherrschen.

Der Autor ist Leitender Oberarzt der Klinik für Hämatologie, Onkologie und Palliativmedizin am Klinikum Bielefeld und Mitglied der Jüdischen Kultusgemeinde Bielefeld »Beit Tikwa«.

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