Interpretation

Inszenierte Täuschung

Jizchak wusste, dass Riwka Jakow half, sich den Segen zu erschleichen – er führte sogar Regie

von Yizhak Ahren  28.10.2013 20:34 Uhr

Wenn Jizchak bei Jakows Maskerade Regie führte, wird verständlich, warum er ihn nicht verfluchte, sondern sagte: »Er wird auch ein Gesegneter sein!« (1. Buch Mose 27,33). Foto: Thinkstock

Jizchak wusste, dass Riwka Jakow half, sich den Segen zu erschleichen – er führte sogar Regie

von Yizhak Ahren  28.10.2013 20:34 Uhr

Auf Meinungsverschiedenheiten zwischen jüdischen Bibelexegeten stoßen wir regelmäßig. Wer zum Beispiel den klassischen Torakommentar von Nachmanides (1194–1270) studiert, wird sehen, dass Nachmanides an zahlreichen Stellen zuerst die Ausführungen von Raschi (1040–1105) zitiert, danach Einwände erhebt und am Ende eine andere Erklärung der Schrift vorschlägt.

Wer Tora lernt, sollte stets versuchen, beide Auffassungen zu verstehen; erst nach einer Erörterung der Stärken und Schwächen der verschiedenen Ansichten kann ein Forscher der Frage nachgehen, welche Interpretation mehr einleuchtet. Dass in unseren Tagen jemand eine neue Sichtweise ins Gespräch bringen kann, soll hier an einem viel diskutierten Bibelabschnitt gezeigt werden.

Zwillinge Über den Segen von Jizchak (1. Buch Mose 27) ist viel geschrieben worden. Das ist keineswegs überraschend, denn die beschriebenen Vorgänge werfen eine Reihe von Fragen auf. Jizchak wollte seinen älteren Sohn Esaw segnen; aber Esaws Zwillingsbruder Jakow hat den blinden Vater getäuscht und erhielt den Segen. War es nicht moralisch verwerflich von Jakow, durch eine Maskerade das Vorhaben seines Vaters zu vereiteln und Bruder Esaw um den ihm vom Vater versprochenen Segen zu bringen?

Jakow wurde von seiner und Esaws Mutter Riwka zur Täuschung veranlasst. Auf den ersten Blick scheint ihr Verhalten äußerst problematisch zu sein: Warum hat sie ihren Mann hintergangen? Es ist bemerkenswert, dass Jakow keinerlei moralische Bedenken gegen den Plan der Mutter äußert, sondern nur Angst hat, das Vorhaben könnte misslingen: »Da sagte Jakow zu Riwka, seiner Mutter: Siehe, Esaw, mein Bruder, ist ein behaarter Mann, und ich bin ein glatter Mann. Vielleicht betastet mich mein Vater, und ich wäre in seinen Augen wie ein Betrüger; so brächte ich auf mich Fluch und nicht Segen« (27, 11–12).

Die meisten Kommentatoren gehen in den bewährten Spuren von Nachmanides. Dieser erklärt, dass es Jizchaks Absicht war, Esaw den Segen Awrahams zu geben, damit dieser das versprochene Land erhalten und G’ttes Bündnispartner werden sollte. Riwka aber war sich sicher, dass Jakow und nicht sein Bruder den Segen erhalten sollte. Woher diese Sicherheit? Aus einer Prophezeiung, die ihr zuteil wurde, als sie schwanger war: »Der Ewige sprach zu ihr: Zwei Völker sind in deinem Leibe, und zwei Stämme aus deinem Schosse werden sich scheiden; und ein Stamm wird mächtiger als der andere, und der ältere wird dienen dem jüngeren« (25,23).

Unwürdig Eindeutig geht hervor, dass der Jüngere und nicht der Ältere die Linie Awrahams fortsetzen wird. Zudem hatte die Tatsache, dass Esaw zwei unerwünschte hethitische Frauen geheiratet hatte (26, 34–35), ihr gezeigt, wie unwürdig er war, Awrahams Segen zu erhalten.

Riwka sah es als ihre Pflicht an, dafür zu sorgen, dass die Prophezeiung erfüllt wird. Als Prophetin konnte sie die oben angeführte Befürchtung von Jakow leicht beiseiteschieben: »Da sprach seine Mutter zu ihm: Auf mich dein Fluch, mein Sohn!« (27,13). Targum Onkelos erklärt ihren Ausspruch: Durch Prophezeiung weiß ich, dass kein Fluch dich treffen wird.

Nachmanides merkt an, dass Riwka offensichtlich ihrem Mann von der erhaltenen Prophezeiung nie erzählt hatte. Denn sonst hätte Jizchak nicht gegen G’ttes Wort gehandelt. Den falschen Sohn zu segnen – das macht keinen Sinn. Warum aber hat Riwka vor der Maskerade Jizchak nicht über seinen Irrtum aufgeklärt? Nachmanides meint: Riwka befürchtete, dass Jizchak aufgrund seiner bekannten Liebe zu Esaw (25,28) in diesem Falle keines der Kinder gesegnet hätte und die Frage, durch wen die Tradition Awrahams fortgesetzt werden sollte, wäre offen geblieben. Paradoxerweise wollte Riwka gerade durch Nichterwähnung der erhaltenen Prophezeiung Jakow den Segen verschaffen.

Prophezeiung Was aber, wenn Riwka schon vor oder nach der Geburt der Zwillinge ihrem Mann von der Prophezeiung berichtet hat? Dann hätte Jizchak gewusst, dass Jakow als geistiger Erbe anzuerkennen war. Wenn jemand von dieser Annahme ausgeht, dann muss er die Geschichte von Jizchaks Segen anders als Nachmanides interpretieren.

Rabbiner Samson Raphael Hirsch (1808–1888) schreibt in seinem Torakommentar, Jizchak habe fest daran geglaubt, die awrahamitische Bestimmung sollte von Esaw und Jakow in brüderlicher Vereinigung und gegenseitiger Unterstützung fortgeführt werden. Er wollte Esaw einen Segen materiellen Inhalts und Jakow einen Segen geistigen Inhalts geben. Riwka war es in Gesprächen nicht gelungen, ihren Mann davon zu überzeugen, dass Esaw für die Erfüllung der awrahamitischen Aufgabe ungeeignet ist. Riwka inszenierte deshalb eine Komödie, um Jizchak zu demonstrieren, wie leicht er einer Täuschung erliege. Ihr Plan ging auf: Jizchak erkannte plötzlich, dass er unbewusst den würdigen Sohn gesegnet hatte.

originell Eine ganz andere, ohne Zweifel originelle Sichtweise der ganzen Vorgänge hat der amerikanische Rabbiner David J. Zucker 2011 in der Zeitschrift »Jewish Bible Quarterly« veröffentlicht. Demnach hat Jakow seinen Vater gar nicht getäuscht; er glaubte nur, dies zu tun. In Wirklichkeit haben die Eltern das ganze Schauspiel inszeniert. Was waren ihre Motive? Nach Zuckers Theorie fiel es Jizchak und Riwka schwer, Esaw zu sagen, dass sein Bruder würdiger sei als er, den Segen Awrahams zu empfangen. Sie beschlossen, den vorher abgesprochenen Akt der Segnung von Jakow so zu tarnen, als sei er die Folge einer Täuschung. Deshalb schickte Jizchak Esaw zur Jagd, und Riwka half Jakow bei der Maskerade. Der blinde Jizchak spielte seine Rolle sehr überzeugend.

Nach Zuckers Lesart wird ein schwieriger Vers sofort verständlich. Als Esaw ankommt und die Täuschung offenbar wird, spricht der Vater: »Wer war denn nun der, welcher Wild gejagt und mir gebracht, und ich aß von allem, bevor du kamst, und segnete ihn? Er wird auch ein Gesegneter sein!« (27,33). Der Schluss der Aussage überrascht uns; wir hätten eher erwartet: »Er sei ein Verfluchter!« (was Jakow zuvor befürchtet hatte). Wenn jedoch Jizchak bei der Maskerade Regie geführt hat, dann begreifen wir, dass er seinen Segen bestätigt.

täuschung Das Schauspiel sollte nach Zucker nicht nur Jakow als den Erwählten bestimmen, sondern auch zu dessen persönlicher Weiterentwicklung beitragen. Über Jakow sagt die Schrift: »Jakow war ein schlichter Mann, der in den Zelten weilte« (25,27). Durch die inszenierte Täuschung wird dem schlichten Mann beigebracht, dass er unter Druck durchaus »politisch korrekt« handeln kann. Auch meint Zucker, dass die Eltern sich Sorgen über Jakow machten, der im Alter von 40 Jahren noch unverheiratet war und gar keine Anstalten machte, sein Elternhaus zu verlassen. Bestandteil des am Ende erfolgreichen Plans war, Bedingungen zu schaffen, die Jakow zwangen, umgehend abzureisen.

Bevor er auf Befehl des Vaters in die Ferne fährt, um sich eine Frau von den Töchtern Labans zu nehmen, erhält Jakow einen weiteren Segen: »G’tt, der Allmächtige, wird dich segnen und dich fruchtbar machen und dich mehren, dass du werdest zu einer Versammlung von Völkern. Und wird dir geben den Segen Awrahams, dir und deinem Samen mit dir, dass du besitzest das Land deines Aufenthalts, das G’tt gegeben dem Awraham« (28, 3–4).

Wir haben mehrere Lesarten der Täuschungsgeschichte referiert. Sie unterscheiden sich in der Antwort auf die zentrale Frage: Wer hat wen getäuscht? Zuckers verblüffende Interpretation erinnert an eine Verschwörungstheorie. Deshalb werden viele konservative Toraleser die Deutungen von Nachmanides und von Hirsch bevorzugen. Aber auch Zuckers Deutung verdient Beachtung. Ein Vergleich verschiedener Toraauslegungen lohnt sich immer.

Der Autor ist Psychologe und hat an der Universität zu Köln gelehrt. Zuletzt erschien von ihm das Buch »Verknüpfungspunkte« (2010).

inhalt
Der Wochenabschnitt erzählt von der Geburt der Zwillinge Esaw und Jakow. Für ein »rotes Gericht« erkauft Jakow von seinem Bruder das Erstgeburtsrecht. Wegen einer Hungersnot muss Jizchak das Land verlassen. Er geht zu Awimelech, dem König von Gerar. Dort gibt er seine Frau Riwka als Schwester aus, weil er um sein Leben fürchtet. Als Jizchak im Sterben liegt, will er Esaw segnen, doch er wird von Riwka und Jakow getäuscht und segnet so Jakow. Der muss danach vor seinem Bruder Esaw flüchten und geht nach Haran.
1. Buch Mose 25,19 – 28,9

Studium

»Was wir von den Rabbinern erwarten, ist enorm«

Seit 15 Jahren werden in Deutschland wieder orthodoxe Rabbiner ausgebildet. Ein Gespräch mit dem Gründungsdirektor des Rabbinerseminars zu Berlin, Josh Spinner, und Zentralratspräsident Josef Schuster

von Mascha Malburg  21.11.2024

Europäische Rabbinerkonferenz

Rabbiner beunruhigt über Papst-Worte zu Völkermord-Untersuchung

Sie sprechen von »heimlicher Propaganda«, um Verantwortung auf die Opfer zu verlagern: Die Europäische Rabbinerkonferenz kritisiert Völkermord-Vorwürfe gegen Israel scharf. Und blickt auch auf jüngste Papst-Äußerungen

von Leticia Witte  19.11.2024

Engagement

Im Kleinen die Welt verbessern

Mitzvah Day: Wie der Tag der guten Taten positiven Einfluss auf die Welt nehmen will

von Paula Konersmann  17.11.2024

Wajera

Offene Türen

Am Beispiel Awrahams lehrt uns die Tora, gastfreundlich zu sein

von David Gavriel Ilishaev  15.11.2024

Talmudisches

Hiob und die Kundschafter

Was unsere Weisen über die Ankunft der Spione schreiben

von Vyacheslav Dobrovych  15.11.2024

Gebote

Himmlische Belohnung

Ein Leben nach Gʼttes Regeln wird honoriert – so steht es in der Tora. Aber wie soll das funktionieren?

von Daniel Neumann  14.11.2024

New York

Sotheby’s will 1500 Jahre alte Steintafel mit den Zehn Geboten versteigern

Mit welcher Summe rechnet das Auktionshaus?

 14.11.2024

Lech Lecha

»Und du sollst ein Segen sein«

Die Tora verpflichtet jeden Einzelnen von uns, in der Gesellschaft zu Wachstum und Wohlstand beizutragen

von Yonatan Amrani  08.11.2024

Talmudisches

Planeten

Die Sterne und die Himmelskörper haben Funktionen – das wussten schon unsere Weisen

von Chajm Guski  08.11.2024