Lag Baomer

Insel stiller Freude

Auf dem Balkon kann an Lag BaOmer nicht nur gebetet, sondern auch gegrillt werden. Foto: Rafael Herlich

Lag BaOmer (der 33.Tag der Omer-Zählung) ist schon seit Langem ein fester Termin im jüdischen Kalender. Seit den Zeiten des Talmuds haben unsere Weisen den Zeitraum zwischen Pessach und Schawuot zur Trauerzeit gemacht. Lag BaOmer wurde zur Insel der Freude in dieser Periode. Für einige Richtungen im Judentum markiert der 18. Ijar (der immer der 33. Tag des Omer-Zählens ist) das Ende der Trauer, für andere ist es nur eine Pause.

Dieser freudige Tag wurde schon immer bunt gefeiert. Ursprünglich mit großen Lagerfeuern und Bogenschießen im Heiligen Land, später mit Picknick im modernen Israel, mit großen Kinderparaden, Grillfesten und Konzerten in vielen jüdischen Gemeinden auf der ganzen Welt. Das im Kern religiöse Fest wird auch von nichtreligiösen Juden sehr gern begangen.

Dieses Jahr wird vieles anders sein. Wegen der Corona-Pandemie können große Gemeindefeiern nicht zugelassen werden. Und auch dann, wenn es in manchen Gemeinden mit den Lockerungen so weit sein sollte, dass eine kleine Feier mit begrenzter Teilnehmerzahl möglich sein wird, können wir uns Gedanken machen, wie man dieses Fest feiert, wenn man allein ist oder keine Möglichkeit hat, an einer großen Feier teilzunehmen.

SELBSTISOLATION Es fällt nicht sofort auf, aber wenn man genauer hinschaut, ist Lag BaOmer das Fest, das am meisten mit unserer aktuellen Corona-Zeit zu tun hat. Es gibt genau zwei Gründe, warum an diesem Datum gefeiert wird, und diese Gründe haben mit einer Epidemie beziehungsweise Selbstisolation zu tun.

Der Hauptgrund für den freudigen Status dieses Tages ist das Ende einer merkwürdigen Epidemie, die 24.000 Schüler des berühmten Rabbi Akiva das Leben kostete. Laut dem Talmud sind alle diese jungen Menschen innerhalb einer sehr kurzen Zeit gestorben, und das Sterben endete genau am 33. Tag des Omer-Zählens.

Wenn wir in früheren Jahren diese Geschichte gelesen haben, war sie für uns irgendwie abstrakt. Klar, wir haben schon daran gedacht, dass es tragisch und unheimlich war, aber das wirkliche Ausmaß der Tragödie konnten wir uns kaum vorstellen.

Jetzt aber, wenn wir die Bilder aus Italien mit Hunderten Särgen sehen, macht es einen ganz anderen Eindruck. Wenn wir in unseren sozialen Netzwerken jeden Tag viele Fotos sehen und Geschichten von zahlreichen verstorbenen namhaften Rabbinern aus Israel und den USA lesen, spüren wir Schmerz und können die Geschehnisse vor 2000 Jahren viel besser nachvollziehen.

KETTE Dabei ging es damals nicht einfach nur um viele gelehrte Männer, vielmehr sollten die 24.000 Schüler von Rabbi Akiva das nächste Glied in der Kette der Tora-Übergabe vom Berg Sinai werden.

Doch warum sollte der Tag, an dem die Epidemie zu Ende war, ein Freudentag sein? Es sind ja alle Schüler gestorben, niemand von ihnen hat überlebt! Die Antwort ist, dass diese Epidemie keine reguläre Seuche war und wahrscheinlich außer diesen 24.000 Schülern niemanden anderen befallen hat.

Im Talmud wird erklärt, dass diese Menschen einen wesentlichen Makel hatten: Sie respektierten einander nicht. Und da sie für die Weitergabe der Tora vorgesehen waren, war dieser Makel entscheidend: Menschen, die nicht bereit sind, sich die Meinung anderer anzuhören, können die Tora nicht weitergeben. Deshalb musste G’tt diese großen Gelehrten aus dieser Welt nehmen.

Rabbi Akiva ließ sich jedoch nach dieser Tragödie nicht zurückwerfen. Er fand fünf neue wunderbare Schüler. Diese Männer wurden zu den herausragenden Persönlichkeiten, zu großen Gelehrten. Gerade deshalb wurde das Ende der Epidemie zum Feiertag: Im Tod seiner Schüler sah Rabbi Akiva trotz der großen Tragödie auch eine Chance zum Neuanfang, die er erfolgreich ergriff.

Die gleiche Botschaft hat auch die Geschichte, die den zweiten Grund für das Feiern an Lag BaOmer liefert. Am 18. Ijar starb der große Gelehrte Rabbi Schimon bar Jochai, und seine Seele kehrte zu seinem Schöpfer zurück. Am Tag seines Todes offenbarte der Autor des kabbalistischen Hauptwerks Sohar viele Geheimnisse der Kabbala und bat darum, seine Jahrzeit als Festtag zu feiern.

Wir können auch ohne Picknick und Paraden positive Energie tanken.

Auch wenn Rabbi Schimon keine Epidemie erlebt hatte, musste er doch ineine bestimmte Art von Isolierung. Er war nicht nur ein scharfsinniger Gelehrter, sondern auch ein geradliniger Mensch, der das sagte, was er dachte. Einmal kritisierte er bei einer Diskussion unter Rabbinern heftig die römischen Besatzer. Seine Meinung wurde publik, und die Römer wollten ihn zum Tode verurteilen.

Deshalb versteckte er sich mit seinem Sohn Eliezer in einer Höhle, wo sie zusammen zwölf Jahre verbringen mussten. Auch wenn seine »Quarantäne« freiwillig war, kamen für ihn keine »Lockerungen« infrage: Für ihn ging es buchstäblich um Leben und Tod. Die Bedingungen seiner Quarantäne waren so hart wie heute kaum vorstellbar.

JOHANNISBROT Rabbi Schimon und sein Sohn hatten nur wenige Kleidungsstücke, sodass sie sich nur zum Gebet anzogen. Den Rest des Tages vergruben sie sich bis zum Hals im Sand, um ihre Blöße zu bedecken, und lernten ununterbrochen. Auch mit dem Essen war es nicht so üppig bestellt wie heute. Sie ernährten sich von einem Johannisbrotbaum neben der Höhle.

Bemerkenswert ist, wie Rabbi Schimon mit der Situation umging. Wie wir jetzt, wusste auch er nicht, wann die Zeit des Versteckens zu Ende sein würde. Es hätte sein können, dass er bis zum Ende seines Lebens in der Höhle bleiben muss. Jedoch machte er sich nie darüber Sorgen. Er war vollkommen überzeugt, dass diese Situation von G’tt kommt und dass sie von G’tt auch zu seinem Wohl gelöst wird.

Er hätte sich viele existenzielle Sorgen machen können: Was wird mit mir, mit meinem Sohn, mit meinen Schülern? Jedoch verschwendete er keine Minute darauf. Rabbi Schimon nutzte jede Minute für tiefgründiges Torastudium, bis er die Nachricht erhielt, dass sein Urteil aufgehoben worden war und er zum »normalen Leben« zurückkehren durfte.

Seine erzwungene Isolation erwies sich als Bereicherung. Innerhalb dieser zwölf Jahre lernte Schimon bar Jochai so viel, dass er zu einem der größten Kabbalisten aller Zeiten wurde und das wichtigste kabbalistische Werk verfasste.

Diese zwei Begebenheiten sollen uns zum Leitgedanken für diesjährige Lag-BaOmer-Feiern werden. Statt unzählige Artikel über das Coronavirus zu lesen und sich die Laune verderben zu lassen (»eine zweite Welle wird die Erde verwüsten, die Wirtschaft wird zusammenbrechen«), sollte man diesen Tag als Gelegenheit nutzen, um positive Energie zu tanken. Keine Sorgen, keine negativen Gedanken, nur Freude – und dafür gibt es mehrere Optionen, sogar in unserer Krisenzeit.

ELEKTROGRILLS Diejenigen, für die die Trauerzeit zu Ende geht, dürfen zum Friseur gehen. Diejenigen, die an diesem Fest früher Ausflüge mit Picknick gemacht haben, können dank praktischer Elektrogrills zu Hause grillen und dabei per Zoom mit den Bekannten anstoßen.

Diejenigen, die mit den Kindern große Gemeindefeiern mit Hüpfburg und Tombola besucht haben, können mit den Kindern in den Zoo gehen oder ihnen auf dem Balkon Schach beibringen. Auch Musikhören, das während der Omer-Zeit nicht erlaubt war, ist an diesem Tag nicht nur erlaubt, sondern geboten.

Man kann sich auch Rabbi Schimon bar Jochai zum Vorbild nehmen und sich im Judentum weiterbilden. Gerade in dieser Zeit gibt es immer mehr Online-Angebote wie Schiurim und G’ttesdienste. Man kann auch einfach ein Buch nehmen und ungestört etwas lernen. Eine gute Idee wäre es, die Gesetze von Laschon Hara, der üblen Nachrede, zu studieren, die eines der Hauptprobleme der heutigen Gesellschaft ist. Auch das Lernen des Traktats Pirkej Awot über gute Charaktereigenschaften wäre in dieser Zeit sehr passend.

Auch ein Telefonat oder eine Skype-Unterhaltung mit Freunden, die man wegen Corona lange nicht gesehen hat, kann die Stimmung heben und das Gefühl stärken, dass alles zum Guten ist.

Der Autor ist Rabbiner der Jüdischen Gemeinden zu Halle und Dessau und Mitglied der Orthodoxen Rabbinerkonferenz Deutschland (ORD).

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