In der dunkelsten Zeit des Jahres, immer dann, wenn die Nächte extrem lang und die Tage sehr kurz sind, stehen wir vor unserer Chanukkia und fragen uns: »Wie war das nochmal? Soll ich die Lichter von rechts oder von links anzünden? Und wohin mit der Zusatzkerze, dem Schamasch?«
Technik Und obwohl die technischen Aspekte, was die Lichter angeht, von Jahr zu Jahr in Vergessenheit geraten und jedes Mal aufs Neue gelernt oder beim Rabbiner neu erfragt werden müssen, haben sich die Chanukka-Geschichten stark in unser Bewusstsein eingeprägt.
Aus der Überlieferung wissen wir, dass nach dem Sieg über die Griechen und der Erlangung der Unabhängigkeit die Juden die Gebote der Tora wieder frei befolgen konnten. Der Tempel wurde neu geweiht, und die Menora sollte erneut – gemäß der Tradition – ihr Licht spenden.
Durch ein Wunder fanden die Makkabäer einen versiegelten Krug mit reinem Öl für den Leuchter.
Durch ein Wunder fanden die Makkabäer einen versiegelten Krug mit reinem Öl für den Leuchter, und obwohl die Menge des Öls nur für einen Tag bestimmt war, brannten die Lichter der Menora ganze acht Tage lang, bis das neue reine Öl hergestellt war und zum Jerusalemer Tempel gebracht werden konnte.
Die lange Brenndauer der Lichter ist das letzte Wunder in der Liste aller Wunder in diesem Zusammenhang. Das erste Wunder war, dass das jüdische Volk sich gegen das Böse auflehnte und nach Freiheit und Gerechtigkeit strebte, obwohl die Chancen auf den Sieg gegen die Griechen minimal (fast null) waren. Doch für diesen Sieg hat das jüdische Volk sehr teuer bezahlen müssen.
Feierlichkeiten Der Talmud offenbart uns, dass Chanukka-Feierlichkeiten, wie wir sie kennen, erst ein Jahr nach dem Sieg und dem Ölwunder von unseren Weisen in die jüdische Tradition eingeführt wurden. Und so steht es geschrieben im Traktat Schabbat 21b: »Im folgenden Jahre bestimmte man, diese Tage mit Lob- und Dankliedern als Festtage zu feiern.«
Auf die Frage, warum nicht noch im selben Jahr gefeiert und gesungen wurde, antworten unsere Weisen, dass die Menschen am Tag des Sieges um ihre getöteten und verschollenen Familienangehörigen trauerten. Und weil die Trauer maximal ein Jahr lang andauert, wurden die Feierlichkeiten dementsprechend erst im Jahr danach festgelegt. Alle Geschichten über Chanukka sind schön und fast märchenhaft – Geschichten, in denen das Gute das Böse besiegt und die Dunkelheit dem Licht weicht.
Aber es gibt eine Geschichte, die weniger bekannt ist, weil sie so schrecklich ist: die Geschichte von Chana und ihren sieben Söhnen. Im Talmud Gittin 57b werden die Begebenheiten ausführlich beschrieben. Der Kaiser befahl dem ältesten Sohn, einen Götzen anzubeten, und tötete ihn, nachdem er sich weigerte, dies zu tun, vor den Augen seiner Mutter und der jüngeren Brüder. So verfuhr der Kaiser mit allen Söhnen der Frau.
Siegelring Als der siebte und jüngste an der Reihe war, schlug der Kaiser vor, seinen Siegelring vor das Kind hinzuwerfen. Der Junge solle sich bücken und den Ring aufheben – so würde das Kind sich nicht vor dem Götzen beugen, sondern lediglich den Ring vom Boden aufnehmen und sich so vor dem Tod retten.
Beim Anzünden der Chanukkalichter denke ich an die Geschichte von Chana und ihren Söhnen.
Doch der Junge verweigerte diesen Vorschlag, weil es so wirken würde, als verbeugte er sich vor dem Götzen. Daraufhin wurde das Kind auf Befehl des Kaisers ermordet. Nachdem die Mutter das alles hatte mitansehen müssen, stieg sie auf ein Dach, stürzte sich hinunter und starb. Wie konnte man das Chanukkawunder feiern, wenn doch jede Familie ihre Toten zu beklagen hatte? Und das ist nur eine von vielen weiteren Geschichten der damaligen Zeit.
Die Griechen verwehrten es dem Volk Israel, die Gebote zu erfüllen und nach der Tradition zu leben. Stets fühlten sie sich durch jüdische Attribute gestört und erließen für die Juden weitere Verbote der Religionsausübung. Die Nichteinhaltung wurde mit dem Tod bestraft. Unwillkürlich denke ich persönlich jedes Jahr beim Anzünden der Chanukkalichter an die Geschichte von Chana und ihren Söhnen. Nach und nach füge ich jeden Abend eine zusätzliche Kerze an meinem Leuchter hinzu und frage mich, ob es ein Zufall ist, dass in der letzten Nacht acht Kerzen brennen – acht Gedenklichter für acht Seelen, die symbolisch für alle Opfer der Tyrannei stehen.
Übergriffe Auch heute verzeichnen wir vermehrt Übergriffe auf Juden. Es wird uns nicht nur der Tod gewünscht, sondern, wie wir am diesjährigen Jom Kippur gesehen haben, Mordanschläge werden auch geplant und ausgeführt. Bundesweit sehen wir, dass es Menschen gibt, die sich durch eine Kippa gestört fühlen und den Kippaträger im besten Fall verbal, oft auch physisch attackieren. Früher hat man »nur« jüdische Friedhöfe geschändet, dann kam es zu Beschimpfungen auf der Straße, und heute werden Synagogen oder Koscherläden (wie im Januar 2015 in Paris oder in der vergangenen Woche in New Jersey in den USA) mit Gewehren gestürmt, um Juden zu töten.
An Jom Kippur gab es in diesem Jahr in Halle ein Wunder, das zu Chanukka passen würde – die Synagogentür hat gehalten, und nur deshalb konnte der Mörder seinen schrecklichen Plan nicht verwirklichen. Dennoch haben wir keine Feier veranstaltet, denn genau wie damals haben wir unschuldige Tote zu beklagen und trauern mit den Angehörigen.
Doch unsere Antwort auf den zunehmenden Antisemitismus finden wir in den Chanukka-Vorschriften. Die Rabbanan lehrten im Talmud (Schabbat 21b): »Es ist ein Gebot, den Chanukkaleuchter draußen hinzustellen. Wer in einem Obergeschoss wohnt, stelle sie ins Fenster zur Straße hin.« Wir verstecken uns nicht, sondern leben unser Judentum stolz und offen weiter aus. Das ist nicht nur unser Recht, sondern ein Gebot!
Der Autor ist Rabbiner der Jüdischen Gemeinde Groß-Dortmund und Mitglied der Orthodoxen Rabbinerkonferenz Deutschland (ORD).