Paraschat Wajigasch

Innere Umkehr

Wahre Umkehr ist ein Kraftakt – in jeder Hinsicht. Foto: Flash 90

Die Abschnitte Wajeschew, Mikez, Wajigasch und Wajechi erzählen von Josef. Er gleicht einer Heldenfigur. Wir lesen, dass sein Vater Jakow ihn besonders liebt und verwöhnt. Er ist im wahrsten Sinne des Wortes ein begabter Träumer – zum Ärger seiner Brüder.

Josefs Träume lassen ahnen, dass ihm eine steile Karriere bevorsteht. Und in der Tat: Nach seiner Talfahrt als Sklave steigt Josef in Ägypten zum mächtigsten Mann nach dem Pharao auf. Man könnte annehmen, dass er zur prägenden Figur des jüdischen Volkes wird – aber es kommt überraschenderweise anders. Einer seiner Brüder wird zum »Prägestempel«, zum Namensgeber des entstehenden Volkes.

NAMEN Zunächst treffen wir im Tanach auf verschiedene Namen für das jüdische Volk. Da ist von »Iwrim« (Hebräern) die Rede. Das Wort kann vor dem Hintergrund akkadischer Keilschrifttexte mit »Wandernden« oder »Fremden« übersetzt werden.

Jakows vierter Sohn war derjenige, der dem Volk Israel seine Identität gab.

Im Anschluss an den Stammvater Jakow, der von Gott an der Furt des Jabbok in Israel umbenannt wird, bildet sich für dessen Nachfahren der Name »Kinder Israels« heraus.

Nach der Zerstörung des Nordreiches Israel durch die Assyrer im Jahr 722 v.d.Z. existierte noch das Königreich Jehuda. Jakows vierter Sohn war also derjenige, der dem Volk Israel seine Identität gab. Von ihm stammt das Haus David ab, und nach der Überlieferung wird der Messias ein Spross der Daviddynastie sein.

Doch wie kam es dazu, dass nicht erwartungsgemäß Josef, sondern sein Bruder Jehuda zur Identifikationsfigur für die Kinder Israels wurde?

Die entscheidende Weiche hierfür wird in der Diskussion zwischen Jehuda und Josef gestellt. Jehuda ringt mit Josef darum, Benjamin, den jüngsten Bruder, aus der – von Josef inszenierten – Gefängnishaft in Ägypten zu befreien.

Jahrzehnte vorher hatten sich die Brüder Josefs zusammengetan, um ihn am Brunnen von Dotan loszuwerden. Jehuda gab dabei zu bedenken: »Was hilft es uns, dass wir unseren Bruder töten und sein Blut verbergen? Kommt, lasst uns ihn den Ismaelitern verkaufen, damit sich unsere Hände nicht an ihm vergreifen; denn er ist unser Bruder, unser Fleisch und Blut. Und sie gehorchten ihm« (1. Buch Mose 37, 26–27).

Aus dem ehemals apathischen und gefühlskalten ist der sympathische, der mitfühlende, mitleidende Bruder geworden.

Jehuda argumentiert hier mit dem Blick auf den eigenen Vorteil: »Ma-bezah – was wäre unser Gewinn, unser Vorteil?« In einem Atemzug sagt er, dass Josef »unser Bruder, unser Fleisch und Blut« ist, um dann vorzuschlagen, ihn in die Sklaverei zu verkaufen. Er zeigt kein bisschen von der tragischen Vornehmheit seines Bruders Ruben, der versucht hatte, Josef zu retten. Nach diesen Ereignissen würde man von Jehuda als Letztem erwarten, dass er sich zu einer bedeutenden Persönlichkeit entwickelt.

Aber so, wie die Tora weiter von ihm erzählt, ist er die Figur, die sich mehr verändert als alle anderen. In unserem Abschnitt ist er fast nicht wiederzuerkennen. War er vor Jahren bereit, Josef in die Sklaverei zu verkaufen, stellt er sich nun zur Verfügung, stellvertretend für seinen jüngsten Bruder Benjamin ins Gefängnis zu gehen.

In der Tat hat sich hier eine Persönlichkeitsveränderung vollzogen. Aus dem ehemals apathischen und gefühlskalten ist der sympathische, der mitfühlende, mitleidende Bruder geworden. Er ist jetzt bereit, das Leiden auf sich zu nehmen, das er Josef früher zugefügt hat. Nun soll es nicht Benjamin treffen. In dem Moment, in dem Josef diese Wandlung bei Jehuda feststellt, offenbart er sich seinen Brüdern. Jehuda hat die Prüfung bestanden, mit der er durch Josef konfrontiert wurde.

Und damit wird er uns in der Tora als der erste Mensch vorgestellt, der umkehrte. Er gilt als ein Choser Bitschuwa – ein reumütiger Mensch.

TAMAR Wie kam es zu Jehudas innerer Wandlung? Die Antwort finden wir in der Geschichte von Tamar. Im 1. Buch Mose 38 wird erzählt, dass sie als Witwe kinderlos blieb, nachdem ihr erster und ihr zweiter Mann – beide waren Söhne von Jehuda – gestorben waren. Ihr Schwiegervater verweigerte ihr den dritten und letzten Sohn zur Ehe.

Aber Tamar war klug. Sie durchkreuzte seine Pläne und Wege im wahrsten Sinne des Wortes: Jehuda erkannte die am Tor sitzende verschleierte Frau nicht, schlief mit ihr und wurde Vater ihres ersten Kindes. Als er hörte, dass seine verwitwete Schwiegertochter schwanger war, drängte er auf ihre Verbrennung. Doch Tamar ließ ihm das Pfand übersenden, das sie ihm vor ihrem Hurendienst abgenommen hatte. Jehuda fiel es wie Schuppen von den Augen, und er musste bekennen: »Sie ist gerechter als ich.«

Tamar schlug aus Jehudas Fall kein Kapital. Sie ging mit seinen krummen Touren nicht an die Öffentlichkeit.

Unsere Weisen ziehen daraus die Lehre: »Lieber lasse sich ein Mensch in einen brennenden Schmelzofen werfen, als das Gesicht seines Nächsten öffentlich erbleichen zu lassen« (Brachot 43,2).

Die List Tamars hat Jehuda dazu gebracht, seine Schuld zu erkennen und einzugestehen. Auch ein erstes Mal in der Tora: Sie beschreibt damit die Geburt des Menschen, der in der Lage ist, sein verkehrtes Handeln zu bereuen und den Weg der Teschuwa anzutreten.

SINNESWANDEL Jehudas Sinneswandel ebnet den Weg zu der großen Szene im Abschnitt Wajigasch. Er macht im wahrsten Sinne des Wortes etwas aus Jehudas Namen. Erinnern wir uns: Der Name leitet sich von dem hebräischen Verb »lehodot« – eingestehen – ab. Bei Jehudas Geburt sprach seine Mutter Lea: »Diesmal werde ich Gott gestehen.« Das Wort »gestehen« weist auf das Eingeständnis von Schuld hin. Aus ihm entwickelt sich auch das Wort »le-hitwadot« – bereuen – und »widuj« – Reue.

Nach Maimonides, dem Rambam (1135–1204), stellt sie im Prozess der Teschuwa eine wichtige Stufe dar. Und Rabbi Abahu sagt sogar: »Wo die Bußfertigen stehen, vermögen auch die vollkommen Gerechten nicht zu stehen. Denn es heißt nach Jesaja 57,19: ›Friede, Friede dem Fernen und dem Nahen, zuerst dem Fernen, nachher dem Nahen‹« (Brachot 34b).

Abahu interpretiert Jehuda dahingehend, dass der umkehrende Mensch Gott nähersteht als der, der schon immer ein Gerechter war.

Josef ist – im Vergleich zu seinem Bruder Jehuda – von Anfang an als Josef Ha-zadik, der Gerechte, bekannt. Er nimmt sogar die schwindelerregende Stellung eines Stellvertreters des Pharaos ein. Aber Jehuda, der Umkehrer, wurde der Stammvater aller künftigen Könige Israels. Hier lernen wir, dass ein Mensch mit seinen Talenten noch so herausragend sein kann – größer ist dennoch derjenige, der in der Lage ist, sich zu ändern und aufzublühen. Das ist die Macht und die Kraft der Teschuwa, und ihr Ursprung liegt bei Jehuda.

Der Autor ist Rabbiner der Israelitischen Kultusgemeinde Bamberg und Mitglied der Allgemeinen Rabbinerkonferenz (ARK).

INHALT
Der Wochenabschnitt Wajigasch erzählt davon, wie Jehuda darum bittet, anstelle seines jüngsten Bruders Benjamin in die Knechtschaft zu gehen. Später gibt sich Josef seinen Brüdern zu erkennen und versöhnt sich mit ihnen. Der Pharao lädt Josefs Familie ein, nach Ägypten zu kommen, um »vom Fett des Landes zu zehren«. Jakow erfährt, dass sein Sohn noch lebt, und zieht nach Ägypten. Der Pharao trifft Jakow und gestattet Josefs Familie, sich in Goschen niederzulassen. Josef vergrößert die Macht des Pharaos, indem er die Bevölkerung mit Korn versorgt.
1. Buch Mose 44,18 – 47,27

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