Chanukka

»… in jenen Tagen«

Foto: Flash 90

In der Ukraine sitzen Millionen von Menschen frierend im Dunkeln. »Kälte-Terrorismus« wird dies heute genannt. Unsere Sorge um die Menschen dort ist größer denn je. Ihr Leiden ist mit unseren Problemen hierzulande, beispielsweise in Bezug auf die Stromkosten oder die Heiztemperatur, nicht zu vergleichen. Doch auch uns fällt vieles jetzt gar nicht so leicht.

»… in jenen Tagen zu dieser Zeit« ist ein Motiv, das uns zu Chanukka täglich im Segen beim Kerzenzünden begleitet. Die tiefe Bedeutung dieses Segens besteht nicht nur im Aufruf zum Feiern, sondern auch zum Nachdenken. Damals und heute. Hat sich etwas verändert, können wir eine Lehre aus der Geschichte ziehen?

glaubensverständnis Eines kann man nicht vergleichen: die Ursachen und Gründe der Kriege. Heute geht es um ein gekränktes Ego, den Machtwunsch, Reichtum an Mineralressourcen und vor allem um Missachtung von Menschenleben. Damals hatte der Krieg einen ganz anderen Hintergrund: Die Hellenisten wollten zwar überall herrschen und ihr Imperium erweitern, doch es ging vor allem um die Lebensphilosophie und nicht nur um die Macht. Die jüdische Kultur und das Glaubensverständnis waren mit ihren Ideen unvereinbar.

Die wenigen können zahlreiche besiegen. Die Mehrheit oder der Stärkste ist nicht immer der Gewinner.

Bei uns steht G’tt im Mittelpunkt, der Mensch und Menschheit führt und die moralische Richtung weist, damit wir miteinander gut leben, die Grenzen der menschlichen Möglichkeiten erkennen und die Wege zu Ihm finden. Die hellenistische Philosophie bot im Gegenteil dazu nur Götzen, deren Macht begrenzt war und die nichts ausrichten konnten. Stattdessen stellte sie den starken, sportlichen und schönen Menschen in den Mittelpunkt, damit Menschen die Defizite der Götzen nicht wahrnehmen sollten und so womöglich zum richtigen Glauben kommen könnten.

Die wenigen können aber zahlreiche besiegen. Die Mehrheit oder der Stärkste ist nicht immer der Gewinner. Das Bild von David, dem kleinen jüdischen Jungen, der dem mächtigen Goliath gegenübersteht und ihn besiegt, haben wir immer vor unseren Augen. Die Makkabäer erlangten damals den Sieg mit sehr wenigen Waffen und Unterstützung. Sie kämpften hart und zielorientiert und konnten das stärkste Imperium kippen.

mehrheit Der heutige Krieg ist zwar leider noch nicht zu Ende, und die Macht der Mehrheit ist nicht zu unterschätzen, die schönen Momente sind aber zu erkennen, wenn Zivilisten aller Altersgruppen in kleinen und großen ukrainischen Städten alles tun, um die russischen Truppen zu stoppen. Es geht um den starken Willen, der sich in Taten umsetzt.

Jeder Mensch ist eine Kerze, die für die Welt leuchten kann.

Dieser Krieg betrifft die Ukraine, Russland und Europa, jeden auf seine Art, aber im Endeffekt uns alle. Wir dürfen uns nicht an den Krieg gewöhnen. Viele Länder und Unternehmen sind immer noch sehr mit Russland verbunden, wollen und können nicht eindeutig Farbe bekennen. Die Kultur der damaligen »Mitjawnim«, Mitmenschen, Juden, die die Makkabäer unterstützen sollten und es nicht taten, ist leider immer noch präsent. Die Welt duldet wieder das Leid vieler und das Machtstreben einiger, obwohl uns allen klar ist, dass dies nicht korrekt ist.

Der kleine Mensch rettet die Welt. Der kleine Ölkrug ist das größte Symbol von Chanukka. Ein kleiner Krug, besiegelt vom Hohepriester, wurde im Tempel gefunden. Das Öl darin war rein (tahor) geblieben. Zivilcourage wird auch in unserer Zeit von einzelnen Menschen gezeigt. In ganz Europa haben sich Millionen Menschen entschlossen, Geflüchtete freundlich zu empfangen, und haben damit das Zeichen gesetzt, dass der Mensch in seinem Herzen rein geblieben ist.

yad vashem Wir sind die Ersten, die das erkennen. Ende der 30er- und in den 40er-Jahren des letzten Jahrhunderts wurden wir nicht so wie heute aufgenommen. Damals waren es nicht Millionen von Menschen, die bereit waren, uns zu helfen. In der Datenbank von Yad Vashem sind weniger als 28.000 »Gerechte unter den Völkern« aufgelistet. Aus der Ukraine sind nur 2673 von ihnen bekannt. (Die Zahl beinhaltet selbstverständlich nur die uns bekannten Fälle der geleisteten Hilfe.)

Manche stellen sich die Frage, ob es überhaupt gerecht und nötig sei, unser Mitleid mit der Ukraine zu zeigen.

Manche stellen sich dadurch auch die Frage, ob es überhaupt gerecht und nötig sei, unser Mitleid mit der Ukraine zu zeigen. Meine Antwort ist eindeutig und zweifellos. »… in jenen Tagen zu dieser Zeit« bedeutet für uns ganz viel. Mitleid und Sorge für andere Menschen sind der Schlüssel unserer Existenz. Jeder Mensch ist eine Kerze, die für die Welt leuchten kann.

Als die Benzinpreise vor ein paar Monaten deutlich gestiegen sind, war es noch ein Zeichen für die Wirkung des Krieges in der Ukraine. Ich persönlich – wie viele andere auch – bin täglich zum Supermarkt gegangen, um eine Flasche Öl im Regal zu suchen. Meist vergeblich. Mittlerweile ist Öl vorhanden, es ist aber sehr teuer geworden. Wir alle wünschen uns, dass die Zeiten, die wir im Moment erleben, schnell vorbei sind, der Finanzmarkt sich stabilisiert und alles nicht noch teurer wird.

Und so wie das Öl damals für acht Tage reichte, hoffen wir diesmal darauf, dass das wenige Öl für lange Tage mit G’ttes Hilfe reichen wird.

Der Autor ist Rabbiner der Jüdischen Gemeinde Frankfurt/Main und Vorstandsmitglied der Orthodoxen Rabbinerkonferenz Deutschland.

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